18. Juni 2023
Estland ist mir in den vergangenen Monaten, in denen ich hier mein Auslandssemester verbracht habe, sehr ans Herz gewachsen. Ich wünschte, mehr Menschen hätten dieses kleine, aber ganz besondere Land im Nord-Osten Europas als Reiseziel im Kopf. Was Estland ausmacht und warum es mir hier so gut gefällt, erkläre ich euch in diesem Beitrag.
Falls ihr, genauso wie ich vor meinen Recherchen für ein Auslandssemester, nicht so ganz wisst, wo ihr Estland verorten sollt, kommen hier erstmal ein paar Fakten: Estland ist der nördlichste der drei baltischen Staaten. Auf einer Fläche von etwa 45.000 Quadratmeter leben hier 1,3 Millionen Menschen – das sind etwas weniger, als allein in München wohnen. Nachbarländer sind im Osten Russland und im Süden Lettland. Im Westen und Norden ist Estland von der Ostsee umgeben.
Schaut ihr auf der Karte über das Meer in Richtung Westen, liegt dort Schweden. Stockholm befindet sich etwa auf der gleichen Höhe, wie die estnische Hauptstadt Tallinn. Das finnische Festland beginnt nördlich von Estland nach etwa 80 Kilometern.
Estland auf der Grenze zwischen Nord und Ost
Diese Lagebeschreibung vermittelt bereits eine Ahnung davon, welche unterschiedlichen Einflüsse auf Estland wirken. Das Land befindet sich geographisch auf der Grenze zwischen Nord- und Osteuropa, zwischen Skandinavien und Russland. Es gibt eine große kulturelle Nähe zu den skandinavischen Staaten, insbesondere zu Finnland. Das konnte ich bei meiner Reise nach Finnland selbst feststellen. Nicht nur die Sprachen der beiden Länder sind sich sehr ähnlich, sondern auch viele Teile der Kultur, etwa das traditionelle Saunieren.
Gleichzeitig ist Estland als ehemaliges Mitglied der Sowjetunion russisch geprägt. Mit etwa einem Viertel der Bevölkerung bilden russische Menschen die größte ethnische Minderheit in Estland. Die Geschichte Estlands ist geprägt von Besatzungen und Fremdherrschaft – durch polnische, schwedische, deutsche und russische Machthaber. Besonders aufgrund seiner eigenen Erfahrungen mit russischer Besatzung ist Estland im russischen Angriffskrieg ein großer Unterstützer der Ukraine.
Erst 1991 erlangte Estland seine Unabhängigkeit zurück. Heute ist das Land Mitglied der EU, auch der Währungsunion, und der NATO.
Deutsche hatten in Estland in der Vergangenheit in vielerlei Hinsicht einen großen Einfluss. Immer wieder sind mir die Namen von deutschen Wissenschaftlern (leider tatsächlich nur Männer) und Adelsfamilien begegnet. Das war für mich besonders spannend, weil ich in der Schule nichts über die gemeinsame Geschichte der beiden Länder gelernt habe.
Vielfalt erleben in Tallinn
Die Hauptstadt Tallinn liegt ganz im Norden des Landes an der Küste. Hierher reisen die meisten Touristen. Ich habe die Stadt während meines Aufenthalts mehrmals besucht und finde, in Tallinn lässt sich die vielfältige Kultur Estlands besonders gut erkennen: Die russisch-orthodoxe Kirche, das wiederbelebte ehemalige Industrieviertel Rotermann mit moderner Architektur, die mittelalterliche Stadtmauer, der Freiheitsplatz mit einem Denkmal der estnischen Unabhängigkeit, die Souvenir-Läden in der Altstadt, die moderne Promenade am Ostsee-Ufer – das alles liegt hier direkt nebeneinander und ist doch so unterschiedlich.
Klein aber fein: Die Uni-Stadt Tartu
Tartu ist mit knapp unter 100.000 Einwohner:innen die zweitgrößte Stadt Estlands. Ich habe mich bewusst dafür entschieden, mein Auslandssemester in einer eher kleineren Stadt zu verbringen, in der Hoffnung, dass ich mich dort schneller eingewöhnen würde als in einer Großstadt. Und genauso war es: Ich habe mich gleich in der ersten Woche in das hübsche und gemütliche Tartu verliebt. Von Anfang an habe ich es sehr genossen, hier fast alle Wege zu Fuß gehen zu können und mich schnell und einfach zu orientieren.
Obwohl Tartu nicht besonders groß ist, sind die Stadtteile doch sehr unterschiedlich. Da sind die gepflegte Altstadt mit dem Kopfsteinpflaster und den pastellfarbenen Häusern, das ehemalige „Holzschnitzeldorf“ Karlova mit viel Straßenkunst, der moderne Teil der Innenstadt mit den großen Einkaufszentren, die teils heruntergekommenen Plattenbau-Siedlungen mit großen Häuserblocks aus Sowjet-Zeiten und das historische Vorstadt-Viertel Supilinn (deutsch: Suppenstadt) mit den bunten Holzhäusern. Gerade diese Gegensätze machen die Stadt für mich so besonders, denn es gibt immer wieder etwas Neues zu entdecken.
Der Fluss Emajõgi fließt in Tartu mitten durch die Innenstadt. Am Fluss leben auch viele Möwen, die bei mir immer ein bisschen Urlaubsgefühle auslösen. Ich liebe es, am Flussufer entlang zu spazieren und dort die Seerosen zu sehen, über eine der vielen schönen Brücken zu laufen und abends in einer der Bars am Ufer Cocktails zu trinken. Im Sommer kann man im Fluss baden, es gibt sogar einen Sandstrand. Außerdem bieten mehrere Anbieter Flussrundfahrten mit kleinen Schiffen an.
Wasser und Wald prägen die Landschaft
Die Landschaft Estlands ist vor allem durch Wald und Wasser geprägt. Etwa die Hälfte des Landes ist mit Wäldern bedeckt. Mir gefallen besonders die hohen, typisch nordeuropäischen Nadelbäume, die hier wachsen, aber auch die vielen Birken.
An der Ostseeküste im Westen und Norden des Landes gibt es lange Strände und Klippen, im Inland finden sich viele Seen, Flüsse und Moorlandschaften. Die Seen waren im Winter zugefroren, was eine sehr besondere Atmosphäre geschaffen hat. Als alles von Eis und Schnee bedeckt war, schien die Welt hier manchmal still zu stehen. Eines meiner Highlights war es, über das Eis auf dem größten See Estlands, dem Peipussee zu laufen. Dabei ist der weiße Himmel aus Wolken vor meinen Augen mit dem endlosen weißen Eis, das bis zum Horizont reichte, verschmolzen. Es war fast so, als wäre ich selbst in einer Wolke – so wie ich es vom Blick aus dem Flugzeugfenster kenne.
Endlose Tage im Sommer
Im Sommer werden die Seen dagegen zum Baden genutzt. Fast jeder Ort in Estland hat mindestens einen See mit Sandstrand und Stegen. Dort, am Wasser, lassen sich die warmen Tage am besten genießen. Im Sommer geht die Sonne in Estland kaum unter. Selbst nach Sonnenuntergang bleibt noch lange ein heller, roter Streifen am Horizont, und wenige Stunden später geht die Sonne schon wieder auf – lange bevor die meisten Menschen aufstehen. Diese scheinbar endlosen Tage habe ich als ganz besonders schön empfunden.
Während Tartu im Winter manchmal fast verlassen wirkte, weil kaum jemand auf den Straßen unterwegs war, kam mit dem Sommer das Leben in die Stadt. Ich bin unendlich dankbar, dass ich die Möglichkeit hatte, während meines Auslandsaufenthalts sowohl den ruhigen, verschneiten Winter, als auch den sonnigen, lebendigen Frühling und Sommer miterleben zu können. Denn beides hatte seinen eigenen Reiz, und es war aufregend mitzuerleben, wie sich das Land, die Natur und die Menschen, veränderten.
Um nichts in der Welt würde ich diese Erfahrung eintauschen wollen. Danke Estland, dass Du mir in den vergangenen fünf Monaten so eine tolles Gastland warst. Es war ganz sicher nicht das letzte Mal in meinem Leben, dass ich Dich besucht habe!