9. März 2020
Wie die Bachelorvergabe in Brasilien aussieht? Meine brasilianische Freundin Júlia hat mich zu ihrer Abschlussfeier eingeladen. So fröhlich wie vorher gedacht wurde es aber nicht.
Eine Zeremonie wie im Film
Einige Stunden vor der Übergabe des Diploms saß meine Freundin Júlia im Schönheitssalon und ließ sich Haare, Make-up und Nägel machen. Dann ging es schnell nach Hause, um sich umzuziehen und die Robe für die Zeremonie einzupacken. Ihre Familie wuselte bereits wie Ameisen in der Wohnung herum. Hemden wurden gebügelt, Parfüm versprüht und alle Spiegel waren besetzt. Júlia musste zwei Stunden vor der offiziellen Zeremonie in der Universität sein, um ihren Doktorhut abzuholen und ihre Anwesenheit zu bestätigen. Dann begann die Veranstaltung.
Zuerst traten die Professor*innen und die Rektorin auf die Bühne, dann die Absolvent*innen. Fein säuberlich trug jeder seine Robe und hielt den Doktorhut und eine Blume in der Hand. Es gab eine kurze Rede, dann standen alle auf und sangen erst die Brasilianische Nationalhymne und dann die der Republik Angola. Diese wurde anlässlich eines angolanischen Absolventen gespielt und sollte ihm gegenüber Respekt äußern und ihn voll in die Zeremonie einbinden. Außerdem wurden alle Nationalhymnen auf Bildschirmen, mit Untertitel und in Gebärdensprache gezeigt. Danach sprachen alle Absolvent*innen mit erhobener, rechten Hand einen Schwur nach und wurden daraufhin einzeln zur Rektorin aufgerufen. Diese bestätigte den bestanden Bachelor, während sie der jeweiligen Person einen weißen Hut über den Kopf hielt. Mit Erhalt des Diploms begaben sich die Absolvent*innen zurück zum Platz und setzten den Doktorhut auf. Dann kamen die Reden der Studiengänge und Professor*innen. Dabei änderte sich auf einmal die Stimmung im Saal.
Marielle
Falls einige während der Zeremonie am Handy saßen oder fast eingeschlafen sind – von der kommenden Rede wurden sie definitiv wach. Zwei Absolventinnen des Studiengangs „Internationale Beziehungen“ hatten sich dafür entschieden, während der Zeremonie eine politische Debatte zu entfachen. Zunächst sprachen sie vom Frauenbild in Brasilien und bekamen damit die erste Reaktion vom Publikum. „Bolsonaro!“ rief jemand aus der letzten Ecke im Saal, als die jungen Frauen den Namen „Marielle“ fallen ließen.
Ele não – Der nicht
Unberührt vom Raunen im Publikum, führten die beiden ihre Rede fort und sagen letztendlich das, was den Saal zum Toben brachte: „Frauen, LGBTs, Schwarze, Indigene, Nordöstliche und Immigranten, wir halten einander an der Hand und rufen zusammen: Ele não!“
Als beide zusammen ins Mikrofon schrien „Der nicht!“ wurde es laut im Saal. Die Leute jubelten, buhten, einige standen auf und andere protestieren „Bolsonaro, unser Kapitän“. Nach einer Weile beruhigte sich das Publikum wieder, aber die Spannung blieb erhalten. Auch die kommende Rede der Professorin sollte daran nichts ändern.
Das Privileg, zu studieren
„Meine Mutter ist weiß und mein Vater ist schwarz. Damit bin ich väterlicherseits die erste Person in der Familie, die einen Abschluss gemacht hat“, begann die Professorin ihre Rede. Daraufhin fragte sie, wie viele schwarze oder indigene Professor*innen wir kennen würden. Stille. Die Anzahl der schwarzen oder indigenen Absolventen ist proportional gering im Vergleich zu den sogenannten weißen. Sie sagt, dass auch wenn es mittlerweile Stipendien gäbe, sei es vielen Brasilianern immer noch nicht möglich, zu studieren. Und mit dem Ende ihrer Rede realisiere ich wieder, wieso ich hier sitze.
„Es war für mich ein Privileg zu studieren“, sagte sie.