5. August 2018
Wo ich mein Auslandssemester verbringen werde, beschäftigt aktuell nicht nur mich, sondern natürlich auch meine Freunde, Bekannten und Verwandten. Was mich dabei überrascht hat: Wie sehr die Meinungen zu meinem zukünftigen Studienstandort auseinandergehen – denn von Mitleid bis Begeisterung ist alles dabei.
Etwa 7.500 Kilometer trennen mein Zuhause für die nächsten Monate von meiner kölschen Heimat – und die Meinungen zu meinem indischen Studienstandort scheinen ähnlich weit auseinander zu liegen.
Seit Wochen dreht sich bei mir in Gesprächen alles um eine Frage: Wohin geht’s ins Auslandssemester? Ich kann das den Leuten nicht übelnehmen: Ich absolviere einen von 31 Hochschulen weltweit durchgeführten Masterstudiengang in International Management, habe im Bachelor für ein Semester im Ausland studiert und nutze auch Semesterferien und Wochenenden gerne, um meine kölsche Heimat für ein paar Tage zu verlassen. Mit einem weiteren Auslandssemestern erfülle ich also gewissermaßen nur vorhandene Erwartungen. Wenn ich dann aber sage, wohin es tatsächlich geht, herrscht plötzlich Schweigen. Und erst nach einem bestätigenden Nicken meinerseits schlägt die Stimmung vollends um: Entweder in neugieriger Begeisterung oder – gefühlt häufiger – unverständiges Mitleid.
Bei meinem Auslandssemester im Bachelor war das anders. Da ging’s ins schwedische Lund, das ist gar nicht so weit weg, das kennt man, das passt. Doch bei der Stadt, in der ich die kommenden Monate verbringen werde, wissen meine Bekannten oft nicht einmal genau, wie sie heißt: Ich verbringe die Zeit bis Weihnachten in Indien, genauer gesagt in Kolkata, auch bekannt als Kalkutta. Oder vielleicht doch Kalikata, Kalkātā oder Calcutta?
Kolkata? Was soll das denn sein?
Keine Frage, von Kolkata, wie die Stadt seit 2001 offiziell heißt, hat wahrscheinlich jeder schon einmal gehört. Kulturmetropole, ehemalige Hauptstadt, Wallfahrtsort, Wirkstätte von Mutter Teresa, Industriestadt, akademisches Zentrum, Verkehrsknotenpunkt – es gibt fast nichts, was die Hauptstadt des Bundesstaates Westbengalen nicht ist. Doch auch wenn der Wikipedia-Artikel über Kolkata länger ist als die Einträge zu Boston, Madrid oder Kapstadt, scheinen die Menschen, mit denen ich spreche, nur wenig über die Stadt zu wissen – und die Meinungen klaffen umso weiter auseinander:
Da wären zum Beispiel meine Großeltern, die Indien schon bereist haben und mir versichern, dass sie „da sofort wieder hinfahren“ würden. Im Gegensatz dazu wäre für einen guten Schulfreund, der vor Kurzem von einer Weltreise zurückgekehrt ist, Indien „das letzte Land, wo [er] wieder hinreisen würde“ – eine Meinung, auf die ich auch bei einigen Arbeitskollegen gestoßen bin.
Und während Kolkata sich weltweit einen Ruf als akademisches Zentrum aufgebaut hat und meine dortige Hochschule, das Indian Institute of Management Calcutta, in internationalen Rankings Spitzenpositionen belegt, ist es in meinem Studiengang zum Running Gag geworden, dass „niemand nach Calcutta [möchte]“ – einer meiner Kommilitonen hat sich nach der Zuteilung der Auslandsstudienplätze gar dafür bedankt, dass ich nach Kolkata gehe, „weil [er] dann nicht dahin muss“.
Nichtsdestotrotz erhalte ich von Verwandten, Freunden und Bekannten Lob dafür, dieses „Abenteuer zu wagen“ und mir mit der als Stadt der Freude auf Bücherregalen und Kinoleinwänden weltweit bekannt gewordenen Stadt ein so „herausforderndes Ziel“ ausgesucht zu haben. Und doch häufen sich vor allem die Kommentare jener, die finden, dass „Indien insgesamt ein Loch ist“, mehrmals wöchentlich darauf pochen, mich „auch ja gegen alles impfen zu lassen“, und nicht glauben, dass sich „seit Mutter Teresa irgendwas geändert hat“. Die ganz Geistreichen schieben dann zusätzlich noch Sprüche über Curry-Gestank, rote Punkte auf der Stirn und den Schlager „Calcutta liegt am Ganges“ ein.
Und was heißt das nun für mich?
Ich persönlich freue mich riesig auf die Zeit in Indien und bin sehr gespannt darauf, was mich erwartet. Doch ganz allgemein gesprochen: Ich gönne den Leuten ihre Meinung. Und mit Klischees wie dem roten Punkt auf der Stirn, ich geb’s zu, spiele auch ich gern. Allerdings beschleicht mich in solchen Gesprächen immer wieder das Gefühl, dass uns allen für eine fundierte Meinung über Kolkata vor allem eins fehlt: Informationen aus erster Hand.
Das mache ich mir hiermit zur Aufgabe. In den kommenden Monaten möchte ich herausfinden, was und wie Kolkata eigentlich ist. Was macht das Leben dort aus? Hat Kolkata Bezeichnungen „Armenhaus Indiens“ und „Sterbende Stadt“ verdient? Wer sind die Menschen, die dort leben? Und ist Indien insgesamt wirklich ein „eigener Kontinent“? All diesen Fragen werde ich ab meiner Abreise am 21. August nachgehen – ich freue mich, wenn ihr mich dabei begleitet!