4. Oktober 2018
Selbst nach mehreren Wochen stelle ich mir manchmal die Frage, ob ich in Kolkata, Indien, gerade wirklich „am richtigen Ort“ bin – sollte ich nicht vielleicht zu Hause sein oder auf Reisen in andere entlegene Teile der Erde? Oder ist das hier doch genau das Richtige für mich? Und was mache ich aus dieser Mischung aus Heim-, Fern- und Hierweh?
In den kommenden Tagen ist es so weit: Mein Semester hier in Indien ist zur Hälfte rum, zumindest was die Vorlesungszeit angeht. Und auch wenn ich mich auf dem besten Weg befinde, mein Zimmer im Wohnheim tatsächlich als Zuhause zu betrachten (wohl auch, da ich endlich Wege gefunden haben, unliebsame Mitbewohner wie Ameisen und Eidechsen loszuwerden) – es gibt tatsächlich noch den einen oder anderen Morgen, an dem ich aufwache und mich frage, ob ich gerade wirklich hier sein sollte. Doch wo ich dann hin möchte – ob das nun Köln oder Kyoto (oder am Ende doch wieder Kolkata?) ist – ist von der Tagesform abhängig.
Heimweh? Bitte was?!
In Zeiten, in denen ein bis drei Auslandsaufenthalte für Studierende als Pflicht gelten, bin ich mir nicht mal sicher, ob ich das in aller Öffentlichkeit sagen darf: Ja, es gibt Tage, da habe ich Heimweh. Und ich bin mir sicher, da bin ich nicht der Einzige – auch wenn das Thema gerade unter Austauschstudierenden tendenziell totgeschwiegen wird. Mir geht es dabei gar nicht so sehr um den Ort, den ich „Zuhause“ nenne (auch wenn ich Köln enorm gut finde); vielmehr geht es um die Menschen, die ich dort „zurückgelassen“ habe, von meiner Familie über meinen Freundeskreis bis hin zu meiner Partnerin. Es geht um das Gefühl, gerade nicht bei ihnen zu sein, in gewisser Weise etwas zu verpassen – und sie an meinen Erlebnissen vielleicht nicht immer teilhaben lassen zu können. Und ehrlich gesagt: Auch wenn aus psychologischer Sicht hinter dem Phänomen „Heimweh“ bestimmt noch mehr steckt, glaube ich, dass die Empfindung gar nicht unbedingt schlimm sein muss. Denn zeigt uns Heimweh am Ende nicht nur, dass wir unser „Zuhause“ zurecht so nennen?
Und was ist mit Fernweh?
In den ersten Wochen hier bin ich bereits drei Mal übers Wochenende verreist – und die Essays und Projekte, die im Oktober fällig sind, werde ich von erfrischend campusfernen Orten wie den Andamanen oder Sikkim aus einreichen. Denn das ganze Semester auf dem Campus in Kolkata zu verbringen, mag für Naturliebhaber zunächst zwar reizvoll wirken – aber dafür ist Indien einfach zu vielfältig und jede einzelne Reise zu faszinierend. Und so häufen sich in jüngster Zeit die Tage, an denen ich aufwache, erst einmal über meine Reisepläne sinniere und froh bin, dass ich diese bald in die Tat umsetze.
Zu allerletzt: Was soll Hierweh sein?
Auch wenn das Spannungsfeld aus Heim- und Fernweh einige meiner Tage hier prägt – an vielen Tagen bin ich einfach froh, hier zu sein. Es ist jetzt bald ein Jahr her, dass ich mich für ein Auslandssemester in Indien entschieden habe, und ich bin meinem „damaligen Ich“ in keinster Weise böse. Klar, ich bin mehrere tausend Kilometer von Zuhause weg und mit meiner Kölner Heimat hat das hier alles herzlich wenig zu tun. Aber ich bin aus freien Stücken hierhin gekommen und, was noch viel wichtiger ist, dankbar, für all das Neue, das ich hier lerne, die Eindrücke, die ich sammle, und die Menschen, die ich treffe. An vielen Tagen sehne ich mich weder danach, zu Hause zu sein, noch nach anderen fernen Orten – sondern bin froh, genau dort zu sein, wo ich gerade bin: Kolkata, Indien.
Und was macht man nun aus Heim-, Fern- und Hierweh?
Alles in allem kann ich sagen, dass für mich jede der zuvor beschriebenen Empfindungen ihre Berechtigung hat und man – egal ob im Auslandssemester, internationalen Praktikum oder Urlaub – Wege finden sollte, mit ihnen umzugehen und sie für sich zu nutzen. Vielleicht ist Heimweh ja einfach nur ein Zeichen dafür, dass man abends mal wieder mit den Menschen skypen sollte, die man „Zuhause“ nennt und die dieses Vermissen oft genauso stark empfinden. Fernweh ist der ideale Anlass, den Campus mal für ein paar Tage hinter sich zu lassen und zu entdecken, was die Welt „da draußen“ zu bieten hat. Und Hierweh? Nun, bei Hierweh hilft vor allem eins: Dankbar sein für das, was man im Ausland erleben darf, und genießen. So viel wie möglich!