5. Dezember 2023
Am 7. Oktober wache ich von Sirenen auf. Tel Aviv wird aus dem Gazastreifen mit Raketen beschossen. Terroristen der Hamas haben die Grenze zu Israel überquert. Das Gastland, in dem ich mein Auslandsjahr verbringen will, ist nun ein Kriegsgebiet. Wie war es in Tel Aviv zu leben, in den Tagen nach Beginn des Krieges?
❗Im Folgenden berichte ich von meinen persönlichen Erfahrungen in Tel Aviv. Es ist eine subjektive Berichterstattung mit dem Ziel, einen Eindruck meines Alltags nach dem Beginn des Krieges zu vermitteln. Ein aussagekräftiges, ausgewogenes Bild der Schicksale der Menschen, die vom Krieg betroffen sind, zu zeichnen, ist mir daher nicht möglich. Ich kann nur davon erzählen, was mir begegnet ist sowie die subjektive Linse meiner Berichterstattung hier zuvor benennen.
6. Oktober 2023: Freitag – Shabbat
Abends bringen mich Lena (kenne ich schon aus meinem Bachelorstudium) und Diggy (unser neuer amerikanischer Freund) vom Shabbat-Dinner im Rogers House Hostel nach Hause. Carlos (ein jüdischer Mitarbeiter im Hostel) hatte für alle gekocht, das Gebet erklärt und mit den Hostelgästen von überall auf der Welt gemeinsam gesungen, natürlich auf hebräisch.
Tel Aviv ist die aufregendste Stadt der Welt dachte ich mir in Gedanken noch bei den Sonnenuntergängen am Strand, meinen neuen israelischen Freunden und dem Konzert auf dem Berg Masada mit Blick aufs Tote Meer.
7. Oktober 2023: Samstag – Angriff
Ich wache auf, als meine Mitbewohnerin Q ohne anzuklopfen meine Zimmertür aufreißt. Während ich sie verwirrt, bitte wieder rauszugehen, wird das Geräusch, das dumpf durch die dicken Wände meines Zimmers schallt, immer klarer. Es sind Sirenen. Sirenen, die vor einem Luftangriff warnen. Tel Aviv wird mit Raketen beschossen.
Mir wird ganz kalt und dann sofort wieder heiß. Wir schließen die Fenster und Türen meines Zimmers, denn es ist der Raketenschutzraum des Apartments. Von draußen hören wir einen dumpfen Knall, dann einen lauteren, einen weiteren, einen weiteren und einen weiteren. Von den Nachrichten erfahren wir, seit 6 Uhr schießt die Hamas Raketen auf Israel.
Während wir den Alarm abwarteten, blieben wir weitgehend ruhig. Denn Israel besitzt eines der besten Luftabwehrsysteme der Welt: den „Iron Dome“. Raketenangriffe passieren leider regelmäßig in Israel. Von den vielen Raketen, die auf Tel Aviv abgeschossen wurden, hatte der Iron Dome wohl fast alle abgefangen. Nach einer Stunde verließen wir den Schutzraum wieder.
Ich kontaktierte meine Freunde vor Ort. Es fiel mir schwer, den Ernst der Situation einzuschätzen. Einerseits wird stets und fortwährend betont Tel Aviv ist sicher, andererseits schreibt mir ein Freund, die aktuelle Situation sei nicht vergleichbar mit den bisherigen: Denn Terroristen aus dem Gazastreifen hatten die Grenze zu Israel überquert. Dies war in dieser Form noch nie passiert. Ich las von einem Festival bei Re’im, nah an der Grenze zu Gaza, auf dem hunderte junge Menschen zusammen feierten. Noch wenige Tage zuvor hatte ich selbst ein Konzert auf einem Festival bei Masada gesehen. Beide Orte liegen nur circa zwei Stunden mit dem Auto von einander entfernt. Ich hätte genauso gut bei dem Festival in Re’im sein können. Die Hamas hat mindestens 260 Menschen auf dem Festival ermordet und viele nach Gaza verschleppt.
Unser Vermieter kam vorbei. Er hatte die Raketen gefilmt, die über das Dach meines Hauses geflogen waren und abgeschossen wurden. Der Iron Dome funktionierte.
Die Nachrichten machten mir Angst. Ich traute mich nicht aus dem Haus. Bilder von Terroristen in den Straßen drängten sich mir auf. Ich musste mich davon abhalten, mir immer weitere Videos anzusehen. Ich kontaktiere das Auswärtige Amt und informierte mich über die Sicherheitslage in Tel Aviv. Der Konsens: Tel Aviv ist sicher.
Sicherheitshinweise bestimmten meinen Alltag
„There is a risk of dying from a missile attack, but you might also be hit by a car. That’s just life.“ („Es besteht die Gefahr, bei einem Raketenangriff zu sterben, aber man kann genauso von einem Auto überfahren werden. So ist das Leben“), sagte mir ein Israeli an meinem ersten Tag in Tel Aviv. Als Deutsche ist es für mich bizarr, welch eine selbstverständliche Rolle der Terror im Alltag hier spielt.
Im Folgenden berichte ich von den Sicherheitsvorgaben, die in den Tagen nach dem Angriff meinen Alltag bestimmten.
90 Sekunden – so viel Zeit hat man, um sich bei einem Raketenalarm in einen Schutzraum zu begeben. Unsere Wohnung hat einen „Mamad“ (Schutzraum im Apartment).
Offiziell soll man mindestens 10 Minuten im Schutzraum warten, da es so lange braucht, bis die Raketensplitter nach Abschuss durch den Iron Dome zu Boden gefallen sind.
Neben den Sirenen gibt es verschiedene Apps, die genauere Informationen über die Raketenangriffe liefern. Ich hatte drei verschiedene.
Panik und aufatmen
Wie ich mich gefühlt habe …
Es war einfach nur bizarr. Die Informationen über die tatsächliche Lage an der Grenze zu Gaza wurden nur nach und nach veröffentlicht. Zu Beginn war es für mich schwer einzuschätzen, welche Bedeutung der Angriff der Hamas hatte. Dass Vergleiche mit den Anschlägen von 9/11 gezogen werden würden, war mir damals noch nicht klar. Was in den folgenden Wochen passieren würde, ließ sich nur erahnen.
Für mich war es ein ständiger Wechsel zwischen Angst und Ruhe. Je nachdem, welche Nachricht ich als letztes gelesen hatte. Meine Gefühle bildeten sich keinen wohlüberlegten Konsens aus dem Nachrichtenteppich, sondern klammerten sich an die wenigen Informationsfetzen, die sie im Moment erhaschen konnten. Ich war erschöpft und überrascht, wie schnell ich mich an die neue Situation geradezu gewöhnte. Dennoch war es eine emotionale Berg- und Talfahrt, die von den abwechselnd erschreckenden und beschwichtigenden Informationen angetrieben wurde, die ich aus meiner Umwelt erhielt. Im Folgenden dazu einige Beispiele:
Ich schaue mit meinen Mitbewohnern einen Film auf der Dachterrasse. Im nächsten Moment hören wir Explosionen in der Ferne und springen auf. Der einzige israelische Mitbewohner unter uns bleibt sitzen.
Aus Deutschland erreichten mich im Minutentakt besorgte Nachrichten von Freunden und meiner Familie. Denn die Nachrichten dort zeigten verstörende Bilder. Schaute ich allerdings aus meinem Fenster, spazieren Pärchen Hand in Hand im Sonnenschein die Straße entlang. Am Himmel fliegt ein Militärhubschrauber. Meine israelischen Kontakte betonen zwar die Neuartigkeit und den Ernst der Lage, meinten aber gleichzeitig “in zwei Wochen sei alles wieder normal”. Auch das Auswärtige Amt brauchte einige Tage, um sich bei mir zu melden.
Die Tel Aviv University verschob den Beginn der Vorlesung um eine Woche (später dann auf Anfang Dezember) und stellte für die Einführungsveranstaltung auf Zoom um. Obgleich circa 1/3 der Studierenden und Angestellten im Laufe der nächsten Wochen als Reservisten von der Armee eingezogen werden würden, werde die Uiniversität ihren Betrieb nach ihren Möglichkeiten aufrechterhalten. Dies könnte aus deutscher Perspektive unverantwortlich erscheinen, dabei sollte man allerdings nicht vergessen, dass Israel seit Jahrzehnten mit Terrorgefahr lebt und entsprechend aufgestellt ist.
Tatsächlich wirkte die Lage in Tel Aviv von außen weitaus bedrohlicher, als sie vor Ort erschien. Die zuvor lebendigen Straßen, in denen sich gebräunte Jogger an Touristen, Outdoor-Tanzgruppen oder vereinzelte Pärchen auf Picknickdecken vorbeischlängelten, wirkten nun geradezu kahl. Einzelne Spaziergänger wagten sich aber dennoch an die Strandpromenade und auch die Sportler ließen sich nicht aufhalten. Viele Geschäfte hatten offen und auch die Busse fuhren.
9. Oktober 2023: Raketenalarm im Hostel
Ich gehe meinen Rucksack abholen, den ich im Hostel vergessen hatte. Dafür steige ich einfach in einen der vielen Busse. Angekommen, treffe ich in der Küche des Hostels eine Familie aus dem Süden Israels, ihr Haus war durch eine Rakete zerstört worden. Per Google-Übersetzer fragen sie mich nach Schokolade für ihr Kind. Während wir das Glas mit Schokocreme aus dem Schrank fischen, erzählt mir eine Freundin aus dem Hostel, ihr Flug sei wieder gecancelt worden. So wie fast alle Flüge in den letzten Tagen. Hoffentlich wird mein Flug in wenigen Tagen trotzdem abheben, hoffte ich. Plötzlich heulen Sirenen auf. Ein Raketenalarm. Wir rennen ins Treppenhaus des Hostels, da es in dem alten Gebäude keinen Raketenschutzraum gibt.
Heimat und Chancen
Mal wieder schreibe ich einem israelischen Freund “Are you ok?”. Ich erzählte ihm von meinem Flug und fragte, ob er auch ausreisen würde. Er verneinte mit den Worten “Never. This my home.” Meine Beziehung zu meiner Heimat war aus dem historischen Kontext heraus von Grund auf anders als die meines israelischen Freundes. Eingedrängt auf der Treppe dachte ich, wie fundamental ungerecht es doch war, dass ich einfach in einen Flieger steigen konnte und in wenigen Stunden im sicheren Deutschland wäre. In meiner Heimat gab es keine Raketenschutzräume, keine bewachten Grenzzäune und auch keinen Konflikt, um das Land auf dem ich lebe, der fortwährend zivile Opfer forderte. Die Geschichte meiner Vorfahren war nicht von Verfolgung und Vertreibung geprägt. Ohne mein eigenes Zutun durfte ich unter privilegierten Umständen aufwachsen.
Ich komme mir bei diesem Gedanken geradezu naiv vor, schließlich sollte diese allgegenwärtige Ungerechtigkeit nicht nur in einem Treppenhaus in Israel meine Aufmerksamkeit beanspruchen können. Gegenüber so vielen Menschen sind die Umstände meines Aufwachsens privilegiert. Obgleich mir dies durchaus bewusst ist, erzeugen Zeitungsartikel auf meinem Handydisplay oder die Tagesschau nur selten die angemessene emotionale Resonanz zu diesem Wissen. Würde ich mit jedem schmerzverzerrten Gesicht in den Nachrichten so mitfühlen können, wie mit Menschen, denen ich persönlich begegne, könnte ich meinen Alltag wahrscheinlich nicht bewältigen.
Gleichsam möchte ich mich nie dazu verleiten lassen, aus reiner Bequemlichkeit, die mir das sichere Leben in Deutschland schenkt, nicht mitzufühlen, nicht nachzudenken und nicht zu handeln.
Ich möchte trotz der Sorge, etwas Falsches zu sagen oder komplexen politischen Zusammenhänge misszuverstehen, nicht einfach vollends aufgeben. Stattdessen gilt es Ambiguität auszuhalten, seine eigenen Kapazitäten einzuschätzen und einzusetzen. Es ist Zeit sich zu politisieren, ins Gespräch zu gehen und zu demonstrieren. Wenige Menschen haben das große Glück, das Geld oder die Zeit die politische Bildung zu erhalten, zu der ich Zugang habe. Für mich erwächst daraus eine Verantwortung, meine Bildungschancen zu nutzen.
Wie geht es für mich weiter?
Lese darüber gerne in meinem nächsten Beitrag.
Von meinem ersten Tag in Tel Aviv und meiner ersten Woche, die in mir den Wunsch weckte so bald wie möglich zurückzukommen, berichte ich ebenfalls auf meinem Blog.