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Autos, Anarchie und Ansagen kulturelle Unterschiede (Teil 1)


Nachdem ich für meine letzten Beiträge teils verworrene Einleitungen gewählt habe, gilt es in diesem vierten Artikel einen eher nüchternen Ansatz zu wählen. Die folgenden Zeilen sollen dem Interessierten eine (kleine) Vorstellung davon geben, was ihn oder sie in Brasilien erwartet, oder erwarten könnte. Ich hatte zu diesem Zweck eine spezielle Liste angelegt, die jedoch mittlerweile mehr als 20 Punkte umfasst. Daher kann an dieser Stelle nur ein Teil des Erlebten wiedergegeben werden, was mir der Leser bitte nachsehen möge.

Autobahnen

Im Gegensatz zu vielen Ländern in Süd- und Mittelamerika besitzt Brasilien eine recht gut funktionierende Infrastruktur. Dies beinhaltet auch ein anständiges Autobahnsystem. Zwar gibt es ein generelles Tempolimit von 120 km/h, generell hat man jedoch eher den Eindruck, man befinde sich auf einer deutschen Autobahn ohne Geschwindigkeitsbegrenzungen. Prinzipiell wäre dies ein eher geringfügiges Problem, wären da nicht die gesundheitsschädliche Fahrweise und der eben jene Geschwindigkeit nicht unterstützende Zustand der Autobahnen. In solchen Momenten habe ich des Öfteren an der generellen These „Der Brasilianer ist so lebensfroh“ gezweifelt und dazu geneigt es als „der Brasilianer ist so lebensfroh, weil er weiß, dass er jeden Tag auf der Autobahn sterben könnte“, oder wahlweise „der brasilianische Autofahrer würdigt das Leben nicht genug“ aufzufassen. Dieser Umstand alleine kann als besorgniserregend empfunden werden. Man möge sich aber nun mein Gesicht  vorstellen, als ich erfuhr (und nach sehr kurzer Zeit in regelmäßigen Abständen mit meinen eigenen Augen sah), dass die Standstreifen der brasilianischen Autobahnen oftmals fälschlicherweise abwechselnd für Picknickwiesen und Testgebiete für zukünftige Teilnehmer der Tour de France gehalten werden. Bis zu 20 Menschen sah ich in einer Gruppe versammelt auf dem Standstreifen Fahrrad fahren – bei Tag und Nacht wohlgemerkt. Auch Wanderungen scheinen keine Seltenheit, findet man doch regelmäßig Menschen in sitzender Haltung auf den Leitplanken ruhen und speisen. Eine Erklärung für dieses Phänomen wurde mir, nachdem man mich herzlich ob meiner Verwunderung über solche Zustände ausgelacht hatte, auch präsentiert: „Wo sollte man denn sonst Fahrrad fahren?“.

Streikverhalten

Wenngleich man sich physisch nicht in Deutschland befindet,  so bekommt man durch Nachrichtendienste, oder Erzählungen einiges mit. So auch beispielsweise, wenn die Lufthansa streikt, oder die Lokführer mehr Geld fordern. In Deutschland zieht sich so etwas auch schon mal über mehrere Monate hin. Der Protest der auf die (öffentlichen) Verkehrsmittel angewiesenen Bevölkerung ist stets groß, äußert sich jedoch zumeist im verbalen und/oder schriftlichen Praktizieren der Meinungsfreiheit. Auch wird in Fällen des Streiks oftmals für Ersatz gesorgt, während selten bis nie (nach meiner persönlichen Erinnerung) der komplette Zug-/Flugverkehr lahm liegt. Ich möchte hierzu eine kurze Geschichte aus Brasilien erzählen, die mir beim Gedanken an die deutschen Zustände zwangsweise die Frage aufwirft ob ich den Kopf aus Ungläubigkeit oder Lachen schütteln soll. Im brasilianischen Bundesstaat Espiritu Santo waren die Mitglieder der Polizei der Meinung ihre Arbeit spiegele sich nicht auf ihren Gehaltsschecks wieder. Wie auch in Deutschland ist es aber der brasilianischen Polizei verboten zu streiken – was also tun? Die Antwort war recht simpel: Man streikte trotzdem.

Da die Ehefrauen dieser Beamten aufgrund des Hungerlohnes ihrer Ehegatten derart besorgt um die Existenz und das Fortbestehen ihrer jeweiligen Familien waren, taten sie sich kurzerhand zusammen und blockierten (sitzend) die Eingänge der Polizeidienststellen im Bundesstaat. Natürlich war es den Herren Beamten unmöglich ihre Ehefrauen von der Dringlichkeit ihrer Tätigkeit zu überzeugen und so mussten sie wohl oder übel (alle) die nächsten zehn Tage zuhause verbringen, da die Furcht vor etwaigen feuerspeienden Hausdrachen auch in Brasilien jeden Mann in seine Schranken weist. Dadurch, dass es im Bundesstaat keine regelnde Polizeigewalt mehr gab brach das komplette Chaos aus. Anarchie, Raubzüge, Mord und Totschlag – kurz: ein absolut unchristlicher Zustand in Espiritu Santo, zu Deutsch: Heiliger Geist. In einer Woche kam es im gesamten Bundesstaat zu über 130 Morden. Verwüstete Städte, keine Menschen auf der Straße, die Bilder suggerieren eher das Filmset eines alten Westernfilms. Schlussendlich, nach etwa zehn Tagen des Abwartens, beschloss das Militär, dass eine Einsicht der Räuber und Banditen wohl nicht mehr erfolgen würde und so begann man mit Besen und Maschinengewehren aufzuräumen. Wenngleich diese Art des Streikens eine Ausnahme darstellt, so wird man sich ausmalen können, welche Schwierigkeiten ich hatte der einheimischen Bevölkerung zu erklären, wie unsere Streiks im schlimmsten Fall aussähen und wie laut die Proteste in Deutschland seien.

Himmel oder Hölle

Diese Bezeichnung ist nicht als eine religiöse Anspielung aufzufassen. Sie ist vielmehr bezeichnend für das emotionale Innenleben des durchschnittlichen Brasilianers. Wenngleich derartige Verhaltensweisen auch in anderen Ländern auftreten und jeder Mensch seine ganz eigenen Charakter besitzt, so möchte ich dennoch kurz auf Brasilien eingehen.

Ich möchte zum Zwecke der Verdeutlichung einen Maßstab anlegen, eine Skala von 0 bis 10, welche praktischerweise auch in den meisten Fällen als das gültige Notensystem in brasilianischen Schulen benutzt wird.  0 entspräche dabei der schlechtesten Note – also einer deutschen 6, eine 5 wäre bestanden – also im deutschen Notensystem eine 4; 6.5 eine befriedigende Leistung – bei uns eine glatte 3 – und eine 10 entspräche in Deutschland der Höchstnote, also 1.

Möchte man nun diesen Maßstab für die Gefühlswelt des durchschnittlichen Deutschen anwenden, so entstünde dabei eine relativ große Bandbreite. Der Deutsche lebt jedoch im Durchschnitt nicht in Extremen, was eine generell positive Lebenseinstellung jedoch nicht unbedingt einschränken muss. Er ist für gewöhnlich nicht leicht begeisterungsfähig und braucht für starke emotionale Ausbrüche eine gewisse Zeit um sprichwörtlich auf Höchsttemperatur zu kommen. Andererseits mag man vom durchschnittlichen Deutschen zwar behaupten er sei ernst, dies bedeutet jedoch nicht zwingend, dass er schlecht gelaunt ist. Um das Beispiel des Maßstabes in die Praxis umzusetzen:  Wir Deutschen können uns ohne jegliche Probleme in einem Zustand von 6.5 befinden. Ein Zustand also, der weder als ausgezeichnet, noch beängstigend  definiert werden kann. Im Umgangssprachlichen würde man in einem Zustand von 6.5 auf die Frage nach dem Befinden mit einem lockeren „Läuft. Bei dir?“ antworten. Generell würde man eine derartige Verhaltensweise weder als unhöflich, noch als einen Zustand von Tristesse bezeichnen.

In Brasilien sind die Tatsachen jedoch ein wenig anders. Es gibt hier schlicht und ergreifend kein „ok“, kein 6.5, kein „Mir geht es normal, so wie immer eben“. Der Brasilianer kennt nur Fröhlichkeit, oder Niedergeschlagenheit. Es kann im brasilianischen Verständnis einem Menschen nur gut, oder schlecht gehen, oder um beim obvigen Maßstab zu bleiben: es gibt nur 0, oder 10. Das deutsche relativ wortkarg im-Auto-Sitzen, führt beim Brasilianer unweigerlich zu der Annahme, dass es ein Problem gebe, was (natürlich) durch Reden gelöst werden muss. Der Unterhaltung kommt große Wichtigkeit zu, frei nach dem Motto: Schweigen ist Silber, reden ist Gold. Wer schweigt ist unglücklich und muss aufgemuntert werden, d.h., zum Reden animiert werden. Dies führt oftmals zu höchst einfallsreichen Fragen, wie beispielsweise: „Magst du Züge?“, oder „Welches Wetter ist dir am liebsten?“. Wer also kreative Ruhe sucht, muss damit rechnen regelmäßig gefragt zu werden, was denn los sei und warum man denn traurig sei.

Zeitgefühl

Deutsche Pünktlichkeit und Planungssicherheit sind nicht nur in Brasilien, sondern weltweit bekannt und geschätzt. Im brasilianischen Alltag jedoch sind Worte im allgemeinen Richtwerte und das gilt vor allem für zeitliche Übereinkommen. Der Drang Termine am besten Tage, Wochen, oder gar Monate im Voraus zu planen ist in Brasilien nicht vorhanden. Ein Beispiel, das ich persönlich miterlebt habe, war die Einladung zu einer Hochzeit. Ich bin auf diesem Gebiet nicht allzu bewandert, erinnere mich aber, dass meine Schwägerin mich etwa sieben Monate vor dem Tag der geplanten Hochzeit persönlich eingeladen hatte – man will schließlich seine Termine in Ordnung bringen. Hier in Brasilien wurden diese Einladungen erst sechs Wochen vorher verteilt. Als ich meine Verwunderung über die recht kurze Frist zum Ausdruck brachte erntete ich zustimmendes Kopfnicken: „Ist relativ, früh, hätten sie auch ruhig in 3-4 Wochen verschicken können“. Auf meine Frage, wieso man es nicht früher kundtue, da die meisten Menschen wohl noch andere Termine in ihrem Leben hätten wurde mir wie folgt geantwortet: „Ach, wenn die das früher bekanntgegeben hätten, dann hätte das doch jeder wieder vergessen“.

Ähnlich ist es mit Terminen im Allgemeinen. Wem in Deutschland ein Termin zugesagt wird, der kann in aller Regel davon ausgehen, dass dieser Termin nur unter extremen Umständen nicht eingehalten wird. In Brasilien sind Zusagen sehr vage. Menschen können mit aller Begeisterung und Zuversicht ein Fußballspiel für 19:00 Uhr organisieren und schlussendlich um 19:15 absagen. Wenngleich niemand sich über derartige Absagen freut, so wird es dennoch als normal hingenommen, während es bei uns als Affront wahrgenommen würde. Generell sind Termine kurzfristig und wiederholt abzuklären (sonst würde man ja Gefahr laufen alles zu vergessen). Das bedeutet oftmals über den Tag verteilt regelmäßige Dialoge, ob das Fußballspiel denn wie geplant stattfindet – selbst wenn es trotz mehrmaliger Zusicherungen schlussendlich doch nicht stattfindet.

Dies war für mich zu Beginn einer der schwierigsten kulturellen Unterschiede. Es ist mir noch immer ein Rätsel, wieso Termine vereinbart werden, wenn sie letztendlich nicht eingehalten werden, aber man lernt sich zu arrangieren. Nach einigen Wochen hier kann ich sagen, dass dies wohl mit der Art der Brasilianer zusammenhängt Konflikte „geschickt“ zu umschiffen. Während der Deutsche generell (Ausnahmen bestätigen die Regel) eher nach dem Motto „Ein Mann (eine Frau) ein Wort“ zu handeln scheint, geht der Brasilianer lieber nicht das Risiko ein, direkt abzusagen. Dies führt zum einen dazu, dass man lernen muss zwischen den Zeilen zu lesen und zum anderen, dass man sich keiner Sache sicher sein kann. Schlussendlich ist es etwas was es zu akzeptieren gilt, denn so banal es klingt: Jeder Ausländer ist ein Gast in diesem Land und hat keinen Anspruch darauf Zustände wie in seinem Heimatland vorzufinden.

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