27. Januar 2017
Im Vergleich zu circa vier Millionen Menschen mit libanesischer Staatsbürgerschaft im Libanon leben mindestens dreimal so viele im Ausland. Kaum eine Familie, zu der an Weihnachten nicht ein Dutzend Verwandte aus allen Richtungen zu Besuch kommt. Drei Begegnungen in einer Region, die für so viele Heimat aus der Ferne ist.
Wegbleiben
Freitag Mittag, wir fahren mit dem Taxi vom palästinensischen Flüchtlingslager Sabra und Shatila (einen Beitrag von mir über einen Besuch dort findet ihr hier), wo wir einmal die Woche Englisch unterrichten, zurück nach Hause. Lautstark unterhalten wir uns. Nach etwa zwanzig Minuten höre ich neben mir: „Wo genau in Hamra?“ Hamra, das ist unser Wohnviertel im Nordwesten Beiruts, das wir dem Fahrer am Anfang als Ziel genannt haben. Perplex antworte ich. Er habe 19 Jahre in der Schweiz gelebt, erzählt uns der Fahrer lachend und jetzt höre ich auch einen leichten Schweizer Einschlag aus dem sonst typischen Dialekt arabischer Muttersprachler heraus. 19 Jahre, seine Mutter sei noch da. Warum er nicht geblieben ist? Er dreht sich zu mir, dann zeigt er aus dem Taxi heraus. Auf die belebte Straße, das Hupen der Taxen, die Menschen, das geschäftige Treiben… Er muss nichts sagen und ich weiß trotzdem was er meint. Ein Land, das nach Heimat riecht. Ich konnte nicht! Und ich weiß, dass er nicht meint, er konnte nicht. Aber er konnte nicht.
Septembervögel
An einem sonnigen Samstag spaziere ich mit einem Freund an der Beiruter Promenade entlang. Er hat an der staatlichen libanesischen Universität Architektur studiert. Jetzt ist von seinen zwei Jobs, die ihn gut haben leben lassen, nur noch einer übrig. Und auch jene Firma denkt regelmäßig daran zu schließen. Die wirtschaftliche Situation ist nicht gerade rosig, besonders für junge Menschen in diesem Land. Nach der Uni nicht im Ausland zu arbeiten, nicht zu ‚traveln‘, zu reisen, wie die LibanesInnen sagen, das war eine bewusste Entscheidung. Fast so, wie es in Deutschland eine bewusste Entscheidung ist, ins Ausland zu gehen. Manche arbeiten nur ein paar Jahre woanders, am Golf, wo die Gehälter unvergleichlich besser sind. Andere gehen für immer und bauen sich in Kanada, in den Vereinigten Staaten oder in Australien eine Existenz auf. Ja, er hat die Entscheidung bewusst getroffen, hier zu bleiben. Und trotzdem stellt sich die Frage immer wieder neu. Wenn die zweite Firma auch zu macht und wenn sich nicht bald eine neue, rentable Möglichkeit ergibt, dann geht auch er. Die libanesische Autorin Emily Nasrallah schrieb schon im Jahr 1962 ihren wunderbaren Roman Septembervögel, über genau dieses Thema. So wie sie über ihrem kleinen Heimatdorf jedes Jahr im September die Vögel in Richtung Süden fliegen sieht, so fliegen auch die Menschen weg. Nicht immer in den Süden, aber jedes Jahr aufs Neue. Fast wie ein Naturgesetz.
Eben mal gehen
Freitagabend, eine Bar, vier Bier, eine Syrerin und drei Deutsche. Wir reden über die Situation in Syrien, über eine bevorstehende Abreise nach Australien und über das Leben im Libanon. Wir diskutieren über Flucht und Emigration, über legitime und illegitime Ursachen hierfür und über die Folgen für Syrien. Warum hier so oft das Wort ‚Krise‘ statt des Wortes ‚Krieg‘ fällt, hat mich am Anfang eher an eine Vermeidungstaktik erinnert. Warum sie ‚Krise‘ sagt, und nicht Krieg, erklärt mir einige Tage vorher eine andere meiner Mitbewohnerinnen so: „Krise, das ist viel größer als Krieg. Krise, das sind all die Toten und Verletzten, aber auch die wirtschaftliche, die politische und die soziale Situation. Das alles ist Syrien gerade, eine riesengroße Krise!“ Diejenigen meiner Kommilitoninnen, die die Weihnachtszeit mit ihrer Familie dort verbracht haben, kommen wieder und beschreiben genau das. Kein Wasser, kein Strom, überall Checkpoints. Ausgangssperre. Krise eben! Ob das Wetter im Libanon schön ist, interessiert da wenig. Hauptsache es ist sicher.
Zurück zu unserem Barabend. Einer der Deutschen fragt, wieviele Menschen wirklich vor Verfolgung fliehen und wieviele eben gehen. Ich habe nicht das Gefühl, dass unsere syrische Kommilitonin mit dieser Frage etwas anfangen kann. ‚Eben mal zu gehen‘, das scheint geradezu absurd, wenn man sich die Situation in Aleppo anschaut, wo sie und ihre Familie herkommen. Aber eben mal gehen, das tun auch die vielen LibanesInnen nicht, die sich jedes Jahr aufmachen in andere Länder. Dafür ist ihnen das Leben hier zu vertraut und die Heimat zu wichtig. Sie wissen, wenn sich in der Region etwas verändern soll, dann müssen sie damit anfangen. Denn in einem stimmen die jungen Menschen aus Syrien und Libanon, mit denen ich mich unterhalte, überein. Darin, dass man den radikalen Kräften in der Region nicht das Feld überlassen darf. „Und trotzdem“, sagt unsere Kommilitonin am Ende, „gehe auch ich. Was ist das für ein Leben dort! Was soll ich dort mit meinem Leben anfangen.“
Und die Zukunft?
Die hohen Zahlen emigrierender junger ChristInnen aus dem Nahen Osten sehen auch kirchliche Autoritäten mit großer Sorge. Wer soll denn in Zukunft übernehmen, Libanon gestalten, Syrien wieder aufbauen, dann, wenn der Krieg vorbei ist. Dann irgendwann. In unserem Kurs ‚Contemporary Eastern Churches‘ haben wir uns die letzten Monate mit den vielen kleineren und größeren christlichen Communities im Nahen Osten auseinandergesetzt, die alle eins verbindet: Die Sorge, um die Zukunft. Nicht nur, aber auch, durch Emigration. Und genau darüber diskutieren wir in unserer letzten Stunde. Warum setzen sich die Kirchen in Deutschland eigentlich dafür ein, dass ChristInnen im Nahen Osten bleiben können? Warum unterstützen Kirchen hier auch finanziell? Sollte man sie nicht einfach alle gehen lassen, irgendwo anders hin, wo es sicher ist? Die meisten in unserem Kurs sind sich einig. Das Land, die Sprache, die Identität: Heimat. Darauf hat jeder Mensch ein Recht. Und (fast) jeder Mensch eben auch einen besonderen Bezug. Gehen tut, wer gehen muss. Es wäre wohl einfach schön, wenn nicht so viele müssen müssten.