24. Oktober 2020
Ich war gerade in der Siesta. Mittagsschlaf. Eigentlich ist das nicht mein Ding, aber der Körper hat danach verlangt. Gegen 17 Uhr ist der Großteil von mir wach. Ein Auge zugekniffen, das andere schaut aufs Handy. Da ist eine Nachricht – besser gesagt: fünf Nachrichten. Die erste: „Carla ist positiv!“, die zweite: „Wir müssen uns testen lassen!“
Die Nachrichten kamen von meiner Cousine. Sie lebt in Sevilla und ich hatte sie seit zwei Jahren nicht mehr gesehen. Da schien es uns eine nette Idee, gemeinsam essen zu gehen. Meine Cousine, ihr Freund, ich – und eben Carla (das ist übrigens nicht ihr echter Name), die zu diesem Zeitpunkt natürlich noch keine Symptome hatte.
Das ist fünf Tage her. Jetzt hat Carla starke Symptome und sitzt nach einem positiven Schnelltest in Quarantäne. Sie hat auch eine Vermutung, wann sie sich angesteckt haben könnte und dieses „wann“ war wenige Stunden vor unserem Treffen. Uns anderen dreien geht es gut – aber das hat nichts zu bedeuten; die ersten Symptome treten, laut Angaben des RKI, im Schnitt erst nach fünf bis sechs Tagen auf.
Bisheriger Kontakt zu Corona
Mir war bewusst, dass Corona – in Spanien sagt man eher „covid“ – ein Teil meines Auslandsaufenthalts sein würde. Aber vor meiner Ankunft, und auch noch in den ersten Wochen auf spanischen Boden, empfand ich die Pandemie eher als Aneinanderreihung angsteinflößender Zahlen. Während ich das hier schreibe, gibt es über eine Millionen Infizierte im Land (bei knapp 47 Millionen Einwohnern). Gestern (am 22. Oktober) wurden fast 21.000 Neuinfektionen festgestellt – das ist ein trauriger Rekord.
Mit der Zeit bekam die Pandemie ein Gesicht. Die Freundin meines Mitbewohners hat einige Tage bei uns gewohnt. Dann ist sie fürs Studium nach Madrid gezogen – in eines der europäischen Epizentren der Pandemie. Sie war keine drei Tage dort, als sie sich angesteckt hat. Ihr geht es mittlerweile wieder gut.
Ich lernte ein Mädchen kennen – Kommilitonin meines anderen Mitbewohners – und sie erzählte von ihrem Großvater. Er hatte sich das Virus eingefangen und wurde sofort ins Krankenhaus eingeliefert. Sieben Tage später, ruft nachts ein Arzt an: der Großvater ist gestorben. Sie konnte ihn nicht mehr besuchen.
Die Schuld als Symptom
Als ich erfahre, dass ich mich möglicherweise angesteckt habe, bin ich wütend. Wütend auf mich selbst, wütend auf das Virus, in den ersten Minuten bin ich auch wütend auf Carla, aber nur in den ersten Minuten, denn sie trifft keine Schuld. Mir wird schwindelig. Habe ich da ein Kratzen im Hals? Ich schaue in den Spiegel, aber sehe da nichts Überraschendes. Meine Mitbewohner sitzen nebenan im Wohnzimmer. Der Fernseher läuft. Ich klopfe an die Tür.
„Was ist, Adri?“
Es dauert einige Augenblicke, bis ich mich überwinden kann. „Jungs, ich hatte Kontakt zu einer Covid-Infizierten. Es tut mir leid.“
Und das tut es wirklich. Ich rufe meine Cousine an. Sie habe mir schon einen Termin zum Schnelltest an einer Klinik ausgemacht. Morgen um 11 Uhr. 40 Euro soll es kosten.
„Und muss ich jetzt allen Personen Bescheid sagen, mit denen ich in den letzten fünf Tagen Kontakt hatte?“
„Nein … nur wenn dein Test positiv ist … aber das ist sehr unwahrscheinlich … reine Vorsichtsmaßnahme ….“
Ich überlege, mit wie vielen Menschen ich in den letzten Tagen Kontakt hatte. Bei der Vorstellung, ihnen von einer Covid-Infektion berichten zu müssen, rollen sich mir die Fußnägel hoch; die Vorstellung, dass sie sich bereits bei mir angesteckt und danach ihre Großeltern besucht haben, ist schlichtweg unerträglich. Gestern zum Beispiel. Da haben wir eine andere WG zum Essen eingeladen. War ein lustiger Nachmittag, aber gerade kann ich nicht darüber lachen.
Die Angst, Überträger (gewesen) zu sein
Ich bitte meine Mitbewohner, dieser WG Bescheid zu sagen, dass ich ein Verdachtsfall bin. Nach einer Stunde, frage ich sie noch, ob sie mir eine Flasche Wasser vor die Tür stellen können.
„Komm raus, Adri!“, ruft einer von der anderen Seite meiner Zimmertür. „Es ist schon okay – solltest du dich infiziert haben, hast du uns auch schon längst angesteckt. Wir bleiben jetzt erstmal in der Wohnung, bis du deine Testergebnisse hast.“
Meine Mitbewohner, und auch unsere Gäste vom Vortag, sind überraschend gefasst. Vielleicht geben sie sich aber auch nur unbekümmert, um mir kein schlechtes Gewissen zu machen (klappt bedingt). Nächstes Wochenende wollte diese andere WG uns eigentlich zum Essen einladen; das Treffen sagen wir noch am selben Tag ab – unabhängig von meinem Testergebnis.
Ich komme tatsächlich raus, setzte mich aber in die hintere Ecke des Wohnzimmers in den Sessel – miesepetrig, der Tag ist für mich gelaufen.
Der Test
Am nächsten Morgen schwänze ich zum ersten Mal die Uni. Ich gehe über eine Stunde zu Fuß zur Klinik, weil ich in diesem Zustand nicht in einen Bus steigen möchte. Als ich dort ankomme, stehen da schon sechs oder sieben weitere Verdachtsfälle. Ein Zettel an der Tür weist darauf hin, dass alle, die einen Schnelltest machen möchten (besser: „müssen“), bitte draußen warten sollen.
Niemand wirkt sonderlich besorgt. Die meisten daddeln am Handy rum, eine hat die Maske unterm Kinn und raucht unbekümmert. Ich halte doppelten Sicherheitsabstand und muss zweimal freundlich darauf hinweisen: „Sorry, nicht vordrängeln. Ich komme als nächster dran.“
Als es soweit ist, führt mich ein Mann im blauen Kittel in ein Behandlungszimmer. „Setzen Sie sich“, „Nehmen Sie bitte die Maske ab“, „Das wird jetzt ein wenig unangenehm“, dann schiebt man mir ein Probestäbchen durch die Nase in einen tiefen Teil meines Körpers, von dem ich nicht wusste, dass er existiert. „Warten Sie bitte draußen.“
Und da warte ich. Warte, wie vor einem Vorlesungssaal, in dem mich eine wirklich schwere Klausur erwartet. Nach 15 Minuten kommt der Mann im blauen Kittel raus, ruft meinen Namen auf und drückt mir wortlos einen Zettel in die Hand. Ich bin negativ. Meine Cousine und ihr Freund stellen am Nachmittag fest, dass sie auch negativ sind. Aber ich bin noch immer erschrocken, wie schnell es gehen kann. Und auf dem Rückweg nach Hause – wieder zu Fuß – frage ich mich, ob das mein letzter Covid-Test in Spanien gewesen sein sollte.
Corona-Update
Am Sonntag, 25.10, hat der spanische Ministerpräsident Pedro Sanchéz zum zweiten Mal den landesweiten Gesundheitsnotstand ausgerufen (die kanarischen Inseln sind ausgenommen). Er gilt zunächst für zwei Wochen; Sanchéz möchte das Parlament aber davon überzeugen, ihn bis Anfang Mai 2021 zu verlängern.
Konkret bedeutet das, dass es nur in begründeten Fällen (etwa zum arbeiten) gestattet ist, sich zwischen 23 Uhr und 6 Uhr auf den Straßen aufzuhalten.
Gastronomische Betriebe müssen um 22 Uhr schließen. Außerdem gilt auch Maskenpflicht am Tisch, wann immer gerade nicht gegessen oder getrunken wird. Rauchen war in den meisten Kneipen ohnehin nicht mehr gestattet – nur dort, wo ein Abstand von zwei Metern zu anderen Gästen eingehalten werden konnte und im Ermessen des Inhabers … jetzt ist es unkomplizierter: es gilt Rauchverbot auf öffentlichen Plätzen und in der Gastronomie.
Ob im In- oder Ausland: gebt aufeinander acht und bleibt gesund!