30. März 2020
Am Montag (16.03.) um 02:00 Uhr morgens betrat ich mein Zimmer, nachdem ich mit dem Zug von Paris nach Grenoble gereist war. Es war eine klare und warme Frühlingsnacht. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich nicht, dass mir nur noch 37 Stunden in Frankreich blieben. Rückblickend betrachtet war es die Ruhe vor dem Sturm.
In Frankreich hat sich die Coronakrise innerhalb eines Wochenendes stark zugespitzt. Viele Austauschstudenten verließen bereits Tage zuvor das Land. In meinem letzten Beitrag Coronavirus in Frankreich: Der Anfang vom Endekönnt ihr nachlesen, was passiert war. Für mich ging es trotz allem, wie jeden Morgen, ins Krankenhaus. Die letzten zwei Wochen verbrachte ich in der Intensivmedizin im Bereich der Intensivpflege von postoperativen Patienten, die also nach der Operation intensiv beobachtet und betreut werden. In diesem Rahmen sollte ich die nächsten zwei Wochen seitens der Anästhesie im Operationssaal stehen.
Noch 30 Stunden…
Montag (16.03.) 09:00 Uhr: Vorherige Woche Mittwoch war ich noch inmitten von regem Treiben im Krankenhaus. Jetzt waren die Flure wie leer gefegt. Die Rezeptionsdame, die mir morgens ein nettes Lächeln schenkte, war fort. Plakate, in denen ein Besuchsverbot verkündet wird, hingen an den Wänden und Spiegeln der leeren Aufzüge. Die Sekretärin der Anästhesie empfing mich mit einem irritiertem „Was machen Sie hier? “. Meine letzte Information war, dass Erasmus-Studierende weiterhin zu ihren Praktika im Krankenhaus gehen sollten. Vor Ort wurde mir jedoch verboten die Operationssäle zu betreten.
Ohne weitere Vorgaben oder offiziellen Informationen seitens des International Office Grenoble, ging ich in die Notaufnahme. Dort sollte ich im April mein Praktikum absolvieren. Nun sah ich zum ersten Mal, was Corona mit dem Krankenhaus gemacht hat. Die Notaufnahme war in zwei Bereiche aufgeteilt worden: „Corona“ und „Nicht-Corona“. Aus allen Richtungen hörte man die Krankenschwestern nach Sauerstoffflaschen und Mundschutzen rufen. Ich wollte helfen und mein Monatspraktikum vorverlegen. Doch auch das war nicht möglich. Kein Medizinstudent unter dem elften Semester durfte im Krankenhaus sein und somit musste ich meine Sachen packen und endgültig gehen.
Noch 27 Stunden…
12:00 Uhr: Auf dem Weg ins Wohnheim traf ich auf Freunde, die gerade dabei waren oder anderen halfen, aufzubrechen. Ich packte mit an das Hab und Gut aus den Wohnheimen in die Bahnen zu schleppen. Aufbruchsstimmung lag in der Luft und nun musste ich mich von meinen ersten Freunden ungeplant verabschieden. „Wir gehen, bevor alles dichtgemacht wird“, hieß es. Der Campus war geschlossen und die allgegenwärtige Stille wurde nur vom Geräusch der rollenden Koffer durchbrochen.
Noch 24 Stunden…
15:00 Uhr: Es folgte ein riesiges hin und her: Reise ich ab? Bleibe ich da? Wie geht es weiter? Was ist mit meinem ERASMUS Stipendium? Wie komme ich nach Deutschland, nachdem nun die Grenzen geschlossen wurden? Wieso kriege ich keine Informationen aus der Universität Grenoble? Was wird Präsident Macron in der Rede am Abend verkünden? Was jetzt? Fragen über Fragen.
Nach langen Gesprächen mit meinen Eltern und der Nachricht vom International Office Bochum, das ein vorzeitiger Abbruch des Erasmus-Semesters möglich ist, entschied ich mich für eine Abreise. Mir viel diese Entscheidung sehr schwer. Mein Inneres sträubte sich dagegen, als ich nach Möglichkeiten suchte nach Deutschland zu reisen. Nach Düsseldorf fand ich keine geeigneten Flüge mehr und bei dem Versuch eine Zugreise zu buchen, wurde die Buchung kurz darauf gecancelt. Schlussendlich buchte ich einen Flug am nächsten Tag um 14:45 Uhr von Lyon nach Frankfurt am Main.
Noch 21 Stunden…
18:00 Uhr: Drei Freunde kamen vorbei, um sich von mir zu verabschieden. Wir alle wurden von Corona überrannt und wussten nicht, wo uns der Kopf stand. Wir unternahmen einen letzten Spaziergang über den Campus und rekapitulierten, was in den letzten Stunden und Tagen passiert war. Begreifen konnte es niemand von uns. Es folgten lange Umarmungen und Tränen, die mir zeigten, wie sehr ich mich mittlerweile zuhause fühlte. Nun musste ich packen und mein Zimmer zur Schlüsselübergabe herrichten. Es gab kein Abschied von allen Bekanntschaften, keine Party, ich hatte nicht einmal Souvenirs für meine Freunde und Familie zuhause.
Noch 15 Stunden…
Dienstag (17.03.) 00:00 Uhr: Nachdem ich fertig mit packen war, traf ich mich mit Freunden, um zusammen zum letzten Mal zu essen. Mittlerweile hielt der französische Präsident Macron bereits seine Rede, in der er den zweiwöchigen Lockdown in Frankreich ab Dienstag, den 17.03.2020 um 12:00 Uhr verkündete. Nach der Rede kehrte eine Totenstille in die Stadt ein. Das Land stand still. In der Zwischenzeit erhielt ich eine E-Mail vom International Office Grenoble, in dem die Mediziner gebeten wurden, wenn möglich, das Land zu verlassen. Außerdem wurde uns untersagt ins Krankenhaus zu gehen und unsere Praktika fortzuführen.
Noch 6 Stunden…
09:00 Uhr: Die Koffer waren gepackt, meine gesamte Einrichtung und Essensvorräte in drei Tragetaschen gestopft und zu einer Freundin getragen. Ich habe mich nicht von allen verabschieden können, doch wenigstens von meinen engsten Bezugspersonen. Es war die Zeit gekommen mein Zimmerschlüssel an der Wohnheimsrezeption abzugeben und meinen Weg zum Flughafen anzutreten. Mit zwei Koffern und einem Rucksack beladen stieg ich in die Bahn Richtung Grenoble HBF, wo ich den Bus Richtung Flughafen nahm. Auf dem Weg dorthin sah ich die ausgestorbene Stadt. Nur noch wenige standen vor Metzgereien, Bäckereien und kleinen Supermärkten Schlange. Die Stadt war nicht mehr so, wie ich sie kannte.
Noch 0 Stunden…
15:00 Uhr: Der Weg zum Flughafen lief problemlos ab, doch noch im Bus erhielt ich die Information, dass am nächsten Tag zur selben Zeit die öffentlichen Verkehrsmittel größtenteils ihren Betrieb einstellen würden. Ich traf Menschen aus aller Welt, die sich auf den Weg zu ihren Liebsten nach Hause machten. Die Stimmung war getrübt, doch zuversichtlich. Und Gott sei Dank, wurde mein Flug nicht gecancelt.
Zurück in Deutschland
Ich brauchte einige Tage, um reflektieren und verstehen zu können, was passiert war. Wenn man sich auf den Weg in ein Auslandssemester macht, malt man sich so manche Szenarien aus. Doch das Szenario einer Pandemie, hat wohl niemand auf dem Schirm. Es fiel mir sehr schwer, Grenoble zu verlassen. Ich hatte erst vor Kurzem in Grenoble Wurzeln geschlagen und angefangen, mir mein kleines Leben aufzubauen. Ich bin dankbar für die Zeit, die ich dort erleben durfte, dankbar für die Erfahrungen die ich gesammelt habe und dankbar so viele wundervolle Menschen getroffen zu haben. Mittlerweile Videochatte ich regelmäßig mit meinen Freunden. Uns verbindet eine schöne gemeinsame Zeit und wir teilen ein schweres Ende. Zusammen stehen wir das durch und zusammen, werden wir uns eines Tages hoffentlich wiedersehen.