10. April 2017
Das nächste große Abenteuer meiner Reise führte mich nach Sao Paulo, genauer gesagt: ins Fußballstadion. Wie wird der Fußball in Brasilien, im Vergleich zu Europa, oder Deutschland gesehen? Welche Unterschiede tun sich auf? Ein kurzer Bericht über Gefühle und Gegensätze.
Vorurteile
In meiner Zeit in Brasilien habe ich gegen allerhand Vorurteile kämpfen müssen, denen ich mich ausgesetzt sah. Europäer würden sich kaum duschen, der Deutsche sei überkorrekt und überpünktlich, oder aber (mein persönlicher Favorit): „In Deutschland trinkt man warmes Bier“. Auf der anderen Seite existieren natürlich auch Vorurteile die wir Deutschen gegenüber den Brasilianern hegen. So zum Beispiel, dass jeder Brasilianer Samba tanze, in Brasilien immer gutes Wetter sei, alle Frauen hübsch aussähen und jeder fußballverrückt sei. Nach aufmerksamem Studieren kann ich die ersten drei getrost als „frisch aus der Gerüchteküche“ betiteln. Bei der Fußballverrücktheit ist es eine Frage des Blickwinkels. Zwar gibt es sehr wohl Menschen in Brasilien, die ihr Leben nicht dem Fußball verschreiben, auch solche, die für den Fußball nichts übrig haben. Diejenigen jedoch, die Interesse für diesen Sport hegen, leben diese Begeisterung so stark aus, dass es schier unmöglich ist dem zu entkommen.
Dortige und hiesige Verhältnisse
Ich selbst habe das Glück gehabt über die letzten knapp 15 Jahre zahlreiche Fußballspiele in verschiedenen Ländern Europas live im Stadion verfolgen zu können. Darunter das Mailänder Derby della Madonnina, das römische Stadtderby, den spanischen Clasico, sowie Spiele der englischen Premier League und der deutschen Bundesliga. In Sao Paulo hatte ich eines Sommerabends die einmalige Chance meiner Liste an Derbys ein weiteres hinzuzufügen: Corinthians vs. Palmeiras – zwei der größten Rivalen des südamerikanischen Fußballs. Wenngleich es nur ein einziges Spiel war, ist es unmöglich vor dem geistigen Auge keinen Vergleich zu ziehen.
In deutschen, und generell europäischen Fußballkreisen, ob in Expertenrunden oder am wöchentlichen Stammtisch, wird ziemlich oft die Meinung vertreten, der südamerikanische Fußball sei emotionaler. Es gäbe eine wahre Fußballromantik, nach welcher der südamerikanische Fußball noch frei von Kommerz sei und nur die Liebe der Anhänger für ihren Verein existiere. Diese Liebe sei so stark, dass oftmals alles andere im Leben dem Fußball untergeordnet würde. Von dem oben erwähnten Spiel ausgehend und von den Fußballanhängern, die ich in Brasilien getroffen habe, kann ich sagen: Es ist wahrlich ein Land für Fußballromantiker.
Ein Königreich für Fußballromantiker
Das fängt lange vor jedem Spiel an. Fußballvereine haben in Brasilien beinahe einen religionsähnlichen Status: Man kann ihnen zwar auch später beitreten, wird aber meist in sie hineingeboren. In Sao Paulo werden beispielsweise ganze Stadtteile einem bestimmten Verein „zugeschrieben“. In solch einem Stadtteil sieht man oft Anhänger eines bestimmten Vereins in den entsprechenden Trikots herumlaufen. Dieselben Anhänger würden es allerdings niemals wagen in diesen Trikots oder gar den Farben ihres Vereines in einen benachbarten Stadtteil zu gehen, der einem anderen Verein zugeordnet ist. Täten sie dies, könnte unangenehm werden. Die emotionale Bindung an den Verein ist also sehr stark.
Ich erinnere mich noch gut an den Abend des Spiels, als wir in ein Parkhaus fahren wollten. Es lag in einem Stadtteil, der traditionell dem Team Corinthians zugeordnet wird. Dennoch verwunderte es mich als uns Angestellte des Parkhauses bei der Einfahrt lauthals entgegenbrüllten: „Vai Corinthiiaaaans!“ („Auf geht’s, Corinthians!“). Wäre man in Deutschland vielleicht für derartiges Verhalten ausgelacht worden, ist es hier gänzlich akzeptiert. Das verdeutlicht auch die, aus deutscher Sicht, sehr drastische Form der Verabschiedung der Corinthians vor dem Abflug nach Japan zur Clubweltmeisterschaft 2013 am Flughafen von Sao Paulo.
Derartige Aufmärsche an deutschen Flughäfen wären bereits schwer vorstellbar. Aber laute, nicht abreißende Gesänge, oder bengalische Feuer?!
Emotionen, Emotionen, Emotionen…
Es sind Emotionen, die auch beim Spiel selbst nicht abreißen. Während die deutsche Fanlandschaft sich meist mit einem monotonen Gebrumme einer Dauerschleife derselben zwei bis drei Lieder zufrieden gibt, ist scheinbar in Brasilien nicht nur eine größere Vielfalt an Gesängen, sondern auch eine grenzenlose Begeisterung vorhanden. Diese befähigt die Anhänger im Grunde 90 Minuten durchzusingen (und oft auch zu tanzen). Während in Deutschland und teilweise auch anderen europäischen Ländern auf den Haupt- und Gegentribünen fast durchgehend gesessen wird, ist es in Brasilien selbstverständlich zu stehen, zu springen, oder gar zu tanzen. Es ist ein gänzlich anderes Lebensgefühl. Man hat bei uns in Europa zunehmend das Gefühl eher ins Theater oder die Oper, als in ein Fußballstadion zu gehen. Man kauft sich seine Eintrittskarte, lehnt sich zurück und erwartet von den Spielern begeistert zu werden. In Brasilien ist die Denkweise ein wenig anders: Man kauft sich eine Karte, macht sich einen schönen Tag, singt, verausgabt sich, feuert seine Mannschaft an. Das Motto lautet also eher: „Ich habe doch für die Karte gezahlt und bin extra hier her gekommen, dann mache ich doch das Beste daraus!“ Es ist die ureigene Lebensfröhlichkeit der Brasilianer, welche gepaart mit ihrer Begeisterung für Fußball eine unvergleichliche Mischung bietet.
Hier ein kleiner Eindruck aus meiner Perspektive:
Und wenn ein Tor fällt? Ich hatte das Glück einem Spiel beiwohnen zu können, das mehr Dramatik nicht bieten konnte. Die Heimmannschaft als Außenseiter gegen den Erzrivalen, verliert nach 40 Minuten zu Unrecht einen Schlüsselspieler, kommt in der zweiten Hälfte quasi nicht an den Ball und hat bis zur 88. Minute keinen Torschuss. Dann ein Konter, ein Tor und alle Dämme brechen – aber seht selbst…
Wo ist die Basis geblieben?
Man kann könnte meinen, dass unser europäischer Fußball sich zu einer Lüge entwickelt hat. Kommerz und Marketingstrategien haben ihn immer mehr von seiner Basis entfernt: den Zuschauern. Die Eintrittspreise steigen, die Stimmung sinkt. Es wird immer von vielen Emotionen gesprochen, die den deutschen/europäischen Fußball ausmachen und prägen. Wer sich einmal ein Spiel in Brasilien, sei es in einer Bar oder selbst im Stadion, angesehen hat, der wird sich ob solcher Aussagen lachend an den Kopf fassen. Viele Menschen mit denen ich sprach, reagierten zunehmend befremdlich auf die immer größer angepriesenen und aufgeblähten Spektakel im europäischen Fußball und sehnen sich nach dem einfacheren, ehrlicheren Fußball zurück. In Brasilien ist dies scheinbar (noch) der Fall. Die Verbindung der Zuschauer zum Fußball ist (noch) genau das: ehrlich.