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Der Krieg in meinem Kopf

Ihr habt lange nichts mehr von mir gehört. Das hat seine Gründe. Der nun bereits seit über einem Monat andauernden Krieg in Palästina und Israel nimmt mich emotional sehr mit. Die Nachrichten und Bilder beeinflussen meinen Alltag und mein Umfeld hier in Nikosia, aber auch mein soziales Umfeld in Deutschland. Die Situation bringt mich an meine Grenzen – in meinen politischen Überzeugungen, meinem Wissen als angehende Historikerin, aber vor allem als Mensch. Hier berichte ich, wie sich der Krieg in 570 Kilometer Luftlinie Entfernung auf die Menschen in meiner Umgebung, aber auch auf Zypern selbst auswirkt. Der Versuch einer Momentaufnahme.

Mein Griechischkurs-Kollege Baker kommt leicht abgehetzt zum Unterricht. Seit dem Anschlag der Hamas auf Israel am 7. Oktober hat Israel zu einer Gegenoffensive in den Gazastreifen angesetzt. Gaza-Stadt ist Bakers Heimat, er hat Familie und Freund:innen dort. Zu Beginn des Krieges hatte er auf unsere besorgten Nachfragen noch statiert: „Macht euch keine Sorgen, wir Palästinenser:innen sind das gewohnt.“ Mittlerweile hat sich die Lage um 180 Grad gedreht. Letzte Woche hat Baker drei Tage gefehlt. Als er wieder zum Kurs erscheint, ist sein Gesicht aschfahl, sein Blick leer: „Mein Haus wurde von einer Rakete getroffen. Meine Tante und meine kleine Cousine sind getötet worden, mein Baby-Cousin ist unter den Trümmern, sie konnten ihn nicht finden, der Beton ist zu schwer.“ Mir schnürt es die Kehle zu und mir fehlen die Worte. Baker ist 17, er ist alleine mit 14 nach Zypern geflohen, um hier ein „besseres Leben zu haben“, wie er bei unserer Vorstellungsrunde am Anfang meinte.

Auch mein palästinensischer Mitstudent Elias aus Bethlehem ist mittlerweile in Alarmbereitschaft. Auf dem Nachhauseweg im Bus hat er mir gestern erzählt, dass Bethlehem vom israelischen Militär eingekesselt wurde und nun auch Raketen nahe dem Haus seiner Familie einschlagen – im Westjordanland. Elias ist genau zur selben Zeit wie ich in Zypern angekommen, wollte hier einen Sprachkurs und ein Praktikum im Krankenhaus machen und dann wieder zurück nach Palästina. Dort arbeitet er in einem israelischen Krankenhaus in Jerusalem. Nun kann er nicht mehr einreisen, seine Mutter versucht seit einem Monat, ihm seine Winterklamotten hier nach Zypern zu schicken. Neben der zehnstündigen Schicht im Krankenhaus und dem dreistündigen Sprachkurs hört er seine Familie jetzt fünf Mal am Tag, um sich zu vergewissern, dass alle okay sind.

Das persönliche Ausmaß für betroffene Menschen ist nicht in Worte zu fassen

Fast alle meine Mitbewohnenden hier tangiert das Thema ebenfalls auf unterschiedliche Art und Weise. Fabri arbeitet für eine NGO im Geflüchtetenlager Pournara 20 Minuten außerhalb von Nikosia. Seit einigen Jahren nimmt die Zahl an palästinensischen Geflüchteten stetig zu, vor allem aus dem Gazastreifen. Seit Beginn des Krieges hat er alle Hände voll zu tun, den Menschen eine psychologische Betreuung zu beschaffen. Viele sind traumatisiert von den letzten Kriegen in Gaza, der aktuelle Krieg lässt die Bilder wieder aufleben, zusätzlich kommen die Sorgen um die Angehörigen in der Heimat. Elliot macht ein Praktikum bei der französischen Botschaft und war unter anderem an der Abwicklung der Evakuierung französischer Staatsbürger:innen aus Israel und Palästina beteiligt. Seit Anfang Oktober ist er selten vor 20 Uhr von der Arbeit zuhause. Dann ist da noch Louis, der ebenfalls Middle Eastern Studies studiert und Sara, die hier als Arabisch-Übersetzerin in einem Camp arbeitet. Nicht selten kommt eine:r von uns nach Hause und bricht einfach in Tränen aus. Bis auf Sara sind wir alle aus verschiedenen europäischen Staaten und haben weder israelische noch palästinensische Wurzeln. Es betrifft uns nicht persönlich und es soll auch nicht um uns gehen, aber es nimmt uns mit – psychisch und körperlich.

Gleichzeitig wehre ich mich bewusst dagegen, zu einem Normalzustand zurückzukehren, wegzuschauen oder angesichts der Bilder und Nachrichten abzustumpfen. Das ist kein Normalzustand und sollte auch nicht als solcher wahrgenommen werden. Was wir an Bildern und Nachrichten sehen, passiert gerade jetzt, während ich diese Worte schreibe, es ist nichts Abstraktes. Wofür ich unglaublich dankbar bin, ist mein Umfeld hier, das meist genauso fühlt wie ich. Wir hören uns gegenseitig zu, sind vor allem für die da, die familiär oder persönlich betroffen sind und versuchen, uns so gut wie möglich aufzufangen.

Mit halbem Herzen in Berlin

Dann sind da noch meine jüdischen und palästinensischen Freund:innen und Studienkolleg:innen in Berlin, mit denen ich versuche, so eng wie möglich in Kontakt zu bleiben und sie zu unterstützen. Meine israelische Freundin hat ihre Heimat vor sechs Jahren verlassen, weil sie die dortige politische und gesellschaftliche Lage nicht mehr ausgehalten hat. Nun sind die Gräben zwischen ihr und ihrer Familie noch tiefer, die Familie ruft nach Rache für die Grausamkeiten, die die Hamas verübt hat. Mit jedem Tag mehr verliert sie Kindheits-Freund:innen, die politisch einen ganz anderen Kurs als sie selbst vertreten; ihre israelische Heimat. Das tut unglaublich weh und ich leide mit ihr. Sie setzt sich mit aller Kraft für ein Ende des Krieges ein, geht zu Demos, postet wie wild. Gleichzeitig hat sie wahnsinnige Angst um ihre Familie; Angst, dass sich der 7. Oktober wiederholen könnte. Und sie traut sich während der ersten Tage der Gegenoffensive Israels nicht mehr raus auf die Straßen Berlins. Weil sie Angst hat, als Jüdin erkannt und angefeindet zu werden.

Gleichzeitig bin ich in Kontakt mit meinen palästinensischen Mitstudierenden und Freund:innen an der FU. Die FU hatte sich Anfang Oktober lediglich mit ihren israelischen Partnerorganisationen und jüdischen Studierenden solidarisiert. Nach einigem Gegenwind hatte sich die Uni zum Semesterstart dann „mit allen Betroffenen des Krieges“ solidarisiert. Für meine palästinensischen Freund:innen deutlich zu spät. Generell haben sie das Gefühl, mit ihrer palästinensischen Identität im deutschen Diskurs zu Nahost einfach unterzugehen. Mehr noch, dass das Leid, das gerade in Gaza passiert, von Deutschland einfach hingenommen wird, während sie sich als muslimische Deutsche immer wieder vom Terror distanzieren müssen. „So ein Typ wie Aiwanger ist noch im Amt, aber ich muss mich von der Hamas und von Antisemitismus distanzieren? Wie kommen die überhaupt darauf, dass ich nur weil ich Muslima bin, die Hamas unterstütze? Während wir diese Debatte hier führen, sterben in Gaza Kinder jede Minute. Meine Familie ist da, ich erreiche sie teilweise nicht mehr. Jeden Morgen wach ich auf und weiß nicht, ob sie noch leben oder nicht. Das ist die Realität und da schauen wir nicht hin. Ich kann wirklich nicht mehr, ich kann nicht mehr“, schreibt mir eine Freundin.

Aus der Ohnmacht heraus zur Tat schreiten

Während mein Umfeld hier zu Beginn in eine Art Schockstarre gefallen ist, haben wir schon bald erkannt, dass das weder uns noch den betroffenen Menschen vor Ort weiterhilft. So haben wir eine Studentische Initiative gegründet, die sich nun jeden Montagabend in einem Kulturzentrum in der Altstadt trifft. Hier besprechen wir, wie es vor allem den persönlich Betroffenen in unserer Runde gerade mit der Situation geht und wir organisieren Demonstrationen und Proteste. Jede Woche findet mittlerweile mindestens eine Aktion auf der „Plateia Eleftheria“, dem „Platz der Freiheit“ statt, meist in Kooperation mit queeren und linken zypriotischen Organisationen. Wie gut so ein Protest tut und wie viel Kraft ich daraus ziehen kann, hatte ich seit meinem Wegzug aus Berlin beinahe vergessen. Es lässt mich spüren, dass ich mit meinen Gefühlen und Gedanken nicht alleine bin. Das Gefühl der Hilflosigkeit schwindet zumindest ein wenig, denn Sichtbarkeit zählt.

Während die zypriotische Regierung sich klar und uneingeschränkt mit Israel solidarisiert, können die Zypriot:innen, mit denen ich mich auf den Protesten unterhalte, sich eher mit den Positionen der Palästinenser:innen identifizieren. „Wir wissen, wie es sich unter einer Okkupation lebt.“, sagt mir ein älterer griechischer Zypriote im Gespräch. Ich bezweifle, ob er damit tatsächlich die britische Kolonialherrschaft auf der Insel meint und lasse das mal unkommentiert.

Zypern nimmt eine strategisch wichtige Position ein

Zypern wird gerade zum Dreh- und Angelpunkt, was das Ausfliegen von Menschen aus dem Kriegsgebiet angeht. Auch deutsche Staatsbürger:innen wurden zunächst aus dem Libanon und Israel nach Zypern ausgeflogen. Menschen mit deutschem Pass in Gaza warten allerdings bis heute auf eine Evakuierung, inklusive der sich in Geiselhaft der Hamas befindenden deutschen Staatsbürger:innen. Hilfslieferungen auf dem Seeweg nach Gaza, sollten sie denn in der kommenden Tagen durchkommen, sollen über Zypern abgewickelt werden. Dazu trafen sich der US Secretary of State Antony Blinken und Zyperns Präsident Nikos Christodoulides am vergangenen Sonntag in Larnaka. Außerdem hat die Royal Airforce seit Beginn des Krieges 33 militärische Transportflugzeuge von seinen Stützpunkten aus nach Israel geflogen.

Zypern ist zudem seit Kriegsbeginn zum Zufluchtsort für rund 16.000 Israelis geworden. Aufgenommen werden sie größtenteils vom „Jewish Community Centre“ in Larnaka. Der zuständige Rabbi dort berichtet dem „Guardian“, dass täglich bis zu 1.000 Israelis per Flugzeug und Schiff auf der Insel angekommen. Das Zentrum versucht ihnen so gut wie möglich bei der Unterbringung und den ersten Schritten zu helfen. Zypern und das „Jewish Community Centre“ ist auch Dreh- und Angelpunkt für viele Reservisten des israelischen Militärs aus dem Ausland, die seit Beginn des Krieges eingezogen wurden. Gleichzeitig kämen aktuell auch Israelis für Kurztrips in die Feierhochburg Agia Napa, um dem Kriegsgeschehen für einige Tage den Rücken zu kehren.

Drohungen und Anfeindungen gegen Palästinenser:innen und Jüd:innen auf Zypern

Bei einer der Demonstration lerne ich Serene kennen. Sie ist die Besitzerin des einzigen palästinensischen Restaurants hier auf der Insel. Das „Mishmish“ kreiert eine „Modern Palestinian Kitchen“ und hat mit Abstand das beste palästinensische Soulfood, das ich seit langem gegessen habe. Am 8. Oktober hat Serene ihr Restaurant geschlossen. „Ich habe mich bewusst dazu entschieden, es wurde einfach zu unangenehm und auch zu gefährlich“, sagt sie. Zum einen sei ihr sofort am Tag nach dem Angriff der Hamas die Polizei auf der Matte gestanden. Die Beamten wollten wissen, wer bei ihr im Restaurant ein- und ausgehe und hätten 5 Mal am Tag patroulliert und das nicht etwa, um sie und ihre Gäste zu schützen. Angesichts der Drohungen, die Serene über Instagram bekommen hat, wie sie berichtete, wäre das wohl dringender notwendig gewesen.

Auch das oben erwähnte „Jewish Community Centre“ in Larnaka beklagt einen Mangel an Sicherheit für ihre Institutionen, wie aus ihrer Website hervorgeht. Ich hatte noch keinen persönlichen Kontakt mit den Menschen dort, kann mir aber vorstellen, dass auch sie gerade Angst haben. Angst davor, dafür verantwortlich gemacht zu werden, was ihre Regierung macht und dafür angefeindet zu werden oder gar Schlimmeres.

Wann wieder Alltag? Ich weiß es nicht.

Natürlich bin ich in den letzten Wochen trotzdem zur Uni gegangen, schreibe meine Mid-Terms und gehe ab und zu in die Berge, um den Kopf frei zu kriegen. Vor zwei Wochen war ich für zehn Tage in Athen und auf Kreta für eine Konferenz zum Thema „Erinnerungskultur“. Während Anfang Oktober alles anfing, hatte ich zudem gerade Besuch von meiner Mama und meinem besten Freund. Ich werde euch noch davon berichten, wenn, ja, wenn – wenn mein Kopf wieder frei ist vom Krieg.

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