15. Februar 2020
Wie groß ist die Armut in Nepal? Und wie groß die Schere zwischen Arm und Reich? Immer wieder erreichen mich solche Fragen, die sich aber nicht in wenigen Sätzen beantworten lassen. Wie ich die wirtschaftliche Situation im Land erlebe, erzähle ich euch hier.
Der Index der menschlichen Entwicklung (HDI) der Vereinten Nationen ist ein Wohlstandsindikator und platziert Nepal auf Platz 147 von insgesamt 189 untersuchten Ländern. Nach einem Ranking der Gesellschaft für Außenwirtschaft und Standortmarketing zählt Nepal zu den 20 ärmsten Ländern der Welt. Bürgerkrieg und Erdbeben (mehr dazu findet ihr in meinem Beitrag zur Geschichte des Landes) haben das Land in seiner Entwicklung zurückgeworfen.
Zahlen und Fakten
Bevor ich euch von meinen Erfahrungen mit Armut erzähle, habe ich ein paar Informationen zusammengetragen (Quelle: LIP Portal, GIZ, Welthungerhilfe):
- Sieben Millionen Menschen, ein Viertel der Bevölkerung, leben nach Angaben der Welthungerhilfe unterhalb der Armutsgrenze.
- Knapp 60% der erwachsenen Bevölkerung können lesen und schreiben.
- Im Gender-Gap-Index des Weltwirtschaftsforums liegt Nepal auf Platz 105 von 149 Staaten.
- 89% aller Kinder besuchen eine Schule. Von 100 Schülerinnen und Schülern verlassen 85 die Schule vorzeitig.
- Auf 100.000 Einwohner kommen im Durchschnitt nur 21 Ärzte.
Probleme in meinem alltäglichen Leben
Kalte Duschen und Wassernot
Seit Ende November ist es in Kathmandu kalt. Damit meine ich weniger die Außentemperatur, sondern die Temperatur in Innenräumen. Da die meisten Häuser schlecht isoliert sind und es keine Heizsysteme gibt, ist es meist angenehmer draußen in der Sonne zu sitzen als am eigenen Schreibtisch. Wie man sich trotzdem warm hält, habe ich euch schon in einem anderen Beitrag erzählt.
Auch warmes Wasser ist nicht immer verfügbar. Um heiß zu duschen muss ich circa eine Stunde vorher das Gas in meiner Wohnung anstellen. Und selbst dann klappt es nicht immer. Daher bin ich inzwischen dazu übergegangen, mein Wasser im Wasserkocher zu erhitzen. Einen kompletten Wasserausfall gab es in meinem Zuhause aber noch nicht. Allerdings leben Freunde von mir, die in einem Waisenhaus in einem kleineren Dorf wohnen, teilweise bis zu zehn Tage ohne fließendes Wasser. Auf meiner Wanderung zum Annapurna Base Camp habe ich Bergsiedlungen passiert, die über nur einen einzigen Wasserspender für alle Einwohner verfügen. Diese Quelle spendet den Einheimischen Wasser zum Kochen und Trinken und dient ihnen als Dusche.
Straßenbild und Kabelsalat
Insgesamt ist der Entwicklungsstand in der Hauptstadt Kathmandu deutlich besser als in den vielen isoliert gelegenen Dörfern in den Bergen. Es gibt Schulen und Universitäten, Apotheken, Medikamente, Ärzte und Krankenhäuser. Und selbst wenn der Verkehr in der Stadt oft ein Albtraum ist, kommt man mit dem Bus (früher oder später) von A nach B. In vielen Cafés gibt es kostenloses Internet, vor allem in meiner jetzigen Wohnsiedlung, in der viele Expats leben. Armut in unterschiedlichen Formen begegnet mir trotzdem, zum Beispiel wenn mich abgemagerte Kinder auf der Straße bedrängen, ihre Ware zu kaufen. Oder wenn sie im Restaurant und auf dem Straßenmarkt bedienen, statt in der Schule zu sitzen. Der schlechte Entwicklungsstand spiegelt sich in den schlechten Straßen und den abenteuerlich verlegten Stromleitungen wider, die Straßenlampen und Häuserfassaden zieren. Trotzdem sehe ich in Kathmandu wenig vom weitaus schwereren, unsicheren Leben der ländlichen Bevölkerung.
Außerhalb der Stadt: Leben in den Bergen
In den Bergregionen ist die medizinische Versorgung unzureichend, es gibt kaum Bildungsmöglichkeiten, Nahrungsmittel sind knapp. Eine Freundin von mir arbeitet mit der Caritas zusammen und ist mit ihrem Team vor kurzem in ein Dorf gefahren, das die Organisation nachhaltig unterstützt. Sie musste mehrere Stunden laufen, um das Dorf überhaupt zu erreichen. Und sie erzählte von den abgemagerten Kindern in zerfetzten Kleidungsstücken und den schrecklichen Bedingungen in Krankenhäusern, die ohne Geld auch in Notfällen niemanden behandeln. Solche Bergdörfer sind von der existierenden Infrastruktur abgeschnitten. Die Menschen, die dort leben, vertrauen laut den Berichten meiner Freundin fast ausschließlich auf das, was sie selber anbauen oder auf die Unterstützung von Hilfsorganisationen. Aber nicht in allen Dörfern sieht es so aus: Andere Dörfer, die meine Freundin besucht hat, können sich bestens versorgen und die Grundbedürfnisse ihrer Bewohner decken.
Mein Fazit
Was mache ich aus meinen Erfahrungen und Eindrücken? Zunächst muss ich sagen, dass es bedrückend ist, die Armut der Menschen mitzubekommen und sich mit ihnen über die politische und wirtschaftliche Situation im Land und ihre Wünsche zu unterhalten. Viele junge Leute träumen zum Beispiel davon, das Land zu verlassen, weil sie glauben, dass sie keine gute Zukunft in ihrer Heimat erwartet. Allerdings ist das nicht so einfach. Allein ein Flug von Deutschland nach Nepal kostet circa 400 Euro und ist bei einem durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen von 939 Euro im Jahr kaum bezahlbar.
Wenn ich an mein Zuhause und an die Leute (ich eingeschlossen) denke, die sich über die verspätete Bahn und andere Kleinigkeiten beschweren, bekomme ich schnell ein ungutes Gefühl in der Magengegend. Natürlich wusste ich schon vorher, dass es mir in Deutschland sehr gut geht, aber den starken Kontrast zu anderen Ländern selbst zu erleben, ist etwas anderes. Daher möchte ich in Zukunft auf der einen Seite mehr Dankbarkeit für meine Privilegien zeigen und mich auf der anderen Seite weniger auf die materiellen Dinge, sondern mehr auf meine zwischenmenschlichen Beziehungen konzentrieren. Soziale Verbindungen und Gemeinschaft nehmen in der nepalesischen Gesellschaft nämlich eine größere Rolle ein als bei uns. Familie und Freunde stehen an erster Stelle und werden extrem geschätzt. Bei einem Lagerfeuer mit seinen Liebsten rückt der erneute Stromausfall dann schnell in den Hintergrund.