30. April 2020
Ich wurde schon öfters gefragt, warum ich denn gleich zwei Semester Erasmus mache, ob eins denn nicht reichen würde. Für mich kann ich diese Frage mit einem klaren „Nein“ beantworten.
1. Ankommen
Die ersten Wochen im neuen Leben können erstmal sehr überwältigend sein. So viele Eindrücke, Menschen, alles ist anders. Man braucht ein Weilchen, um rein zu kommen und seinen eigenen Rhythmus zu finden.
Wenn man dann mal herausgefunden hat, welches Busticket das Praktischste ist, welcher Supermarkt der beste und welcher Weg der Schnellste in die Uni, wird alles viel einfacher. Und dann sind da natürlich auch noch all die 1000 Sachen wie Wohnungssuche, Bankkonto, Handykarte, … die es zu organisieren gilt. Da können schonmal ein paar Wochen vergehen. Deshalb war für mich von Anfang an klar: dieser ganze Aufwand lohnt sich viel mehr, wenn ich länger bleibe.
2. Freunde
Da am Anfang alle Erasmusleute neue Freunde suchen, ist erstmal jeder mit jedem befreundet. Mit der Zeit findet man dann aber immer mehr heraus, mit wem man seine Zeit am liebsten verbringt. Auf diesen Freundschaften dann im zweiten Semester weiter aufbauen zu können, ist wunderbar und lässt einen nochmal viel näher zusammenwachsen.
Auch braucht es seine Zeit, bis man mit Franzosen wirklich befreundet ist und Gespräche führt, die überSmalltalk hinausgehen. Die meisten Leute habe ich zwar schon im ersten Semester kennengelernt (durch Kurse, meine WG oder die Cheerleading-Gruppe), wirklich angefreundet habe ich mich oft aber erst im zweiten Semester. Freundschaften brauchen seine Zeit und es dauert einfach ein bisschen, bis man vom sich in der Uni grüßen und reden zu einem „Hey lass doch mal einen Kaffee trinken“ oder „Willst du heute Abend auch vorbeikommen?“ übergeht.
Diese neuen Freundschaften aus dem zweiten Semester würde ich auf keinen Fall mehr missen wollen. Ich habe das Gefühl, dadurch, dass ich ein Jahr bleibe, auch wirklich Freunde fürs Leben gefunden zu haben, mit denen ich auch noch lange nach meinem Erasmusaufenthalt in Kontakt sein werde.
3. Sprache
Dass es für den sprachlichen Fortschritt einen gewaltigen Unterschied macht, ob man nur ein oder zwei Semester bleibt, dürfte wohl selbsterklärend sein. Ich glaube, ich hatte nach ungefähr drei Monaten das Gefühl, entspannt Gespräche führen zu können. Das zweite Semester hat aber nochmal unglaublich viel geholfen, vor allem in Bezug auf die Umgangssprache als auch beim Schreiben (das geschriebene Whatsapp- als auch das Unifranzösisch). Vor allem aber hat es mir mit der Fähigkeit, genau das ausdrücken zu können, was ich sagen will, anstatt es umschreiben zu müssen oder verwandte Wörter herzunehmen, geholfen. Das hilft einem, besser mit Leuten in Kontakt zu kommen und auch über ernste Themen reden zu können, und das ist dann wieder sehr hilfreich in Bezug auf neue Freundschaften. Außerdem werden die Vorlesungen in der Uni auch immer interessanter, je mehr man vom Inhalt versteht.
Zudem habe ich inzwischen das Gefühl, dass mein Französisch so gut ist, dass ich nicht nach zwei Monaten wieder daheim alles wieder vergessen haben werde. Da ich jetzt auch viel einfacher Filme und Bücher auf Französisch anschauen/lesen kann, lässt es sich recht gut in meinen Alltag einbauen
4. Reisen
Jedes Land hat so unglaublich viel zu entdecken, und die Zeit vergeht wie im Flug. Ich habe es nicht einmal in einem Jahr geschafft, alles anzuschauen, in einem Semester wäre es gleich doppelt unmöglich gewesen. Die ersten Wochenenden sind noch gefüllt mit organisatorischen Dingen und Erasmusveranstaltungen, dann kommen noch ein paar Freunde zu Besuch, man macht ein paar Ausflüge und schwupps, schon sind alle Wochenenden des ersten Semesters verplant.
5. Jahresrhythmus
Ich liebe den Wechsel der verschiedenen Jahreszeiten. Diesen dann in einem anderen Land mitbekommen zu können, ist deshalb besonders schön. Als ich ankam, haben die Bäume vor meinem Fenster Blätter getragen, die dann aber im Herbst immer weniger wurden. Umso schöner ist es, sie jetzt wieder wachsen zu sehen.
Auch kulturell passieren so viel Sachen, Jahrestage und Ereignisse über das Jahr verteilt, die man nur ungern verpassen möchte. Das Video ist zum Beispiel von einem Kulturfestival im Sommer. Genauso genossen habe ich aber den Weihnachtsmarkt im Winter.
Ein weiterer Punkt ist das Unisystem in Frankreich, das in Jahren anstatt in Semestern gezählt wird. Deshalb sind manche Kurse, Projekte, Hochschul- oder Sportgruppen auf die Dauer von einem Jahr ausgerichtet. Wäre ich nur ein Semester geblieben, hätte ich zum Beispiel nicht dem Cheerleading-Team beitreten können, da der große Wettkampf erst am Ende des Jahres ist, und das einjährige Politikzertifikat hätte ich auch nicht absolvieren können.
Wenn mich also jemand fragt, warum denn zwei Semester, das ist meine Antwort. Und nein, ich habe definitiv keine Zeit verloren. Natürlich habe ich großes Glück, mir auch fast alle meine im Ausland gemachten 60 ECTS anrechnen lassen zu können. Aber selbst wenn das nicht geht, verliert man keine Zeit. Im Gegenteil, ich habe unglaublich viele Dinge dazu gewonnen, die viel viel wertvoller und wichtiger sind als ein schnellerer Einstieg ins Berufsleben. Außerdem ist Zeit sowieso nur eine Erfindung, die kann gar nicht verloren gehen, sie geht nur vorüber. Deshalb gilt es, das Beste aus ihr zu machen, und das macht man mit einem Auslandsjahr auf jeden Fall.
Wenn ihr also die Wahl habt, kann ich euch ein ganzes Jahr wirklich sehr ans Herz legen. Traut euch!
À bientôt!
Clara