19. Juli 2016
Ich bin jetzt seit einer Woche in Kanada. In dieser kurzen Zeit habe ich bereits vieles erleben dürfen. Wie sieht wohl mein Gesamteindruck bisher aus? Meine Erfahrungen sind allerdings nicht durchweg positiv …
Meine holprige Ankunft
Als ich endlich meine Anreise hinter mich gebracht hatte und das Taxi vor meinem Haus hielt, suchte ich erst einmal nach der Klingel. Vergeblich. Da ich früher ankam als geplant, rechneten meine Mitbewohner noch nicht mit mir. Bei meinem Versuch mich an der Tür bemerkbar zu machen, stolperte ich direkt ins Haus rein, denn Haustüren werden in Kanada üblicherweise nicht abgeschlossen. Das reichte aus, um meinen Mitbewohner endlich auf mich aufmerksam zu machen. Er begrüßte mich mit den Worten „Welcome to the Ghetto!“
Was habe ich nur getan?
Diese Frage habe ich mir gestellt, seit der Bus Kingston erreichte. Straßenbeleuchtung: Fehlanzeige. Größere Gebäude oder ein Zentrum ebenfalls nicht zu sehen. Dafür jede Menge verlassene und verfallene Häuser. Unter die Aufregung mischte sich ein Gefühl von Unbehagen. Wo bin ich hier gelandet? Habe ich die richtige Entscheidung getroffen nach Kingston zu gehen? Bin ich möglicherweise doch noch nicht bereit für einen längeren Aufenthalt im Ausland, ganz auf mich alleine gestellt? Gut, das war übertrieben, schließlich hatte ich vorab Kontakt zu meinen Mitbewohnern auf Facebook und eine sehr nette, hilfsbereite Praktikumsbetreuerin. Trotzdem habe ich mich in dem Moment sehr alleine gefühlt.
Der nächste Morgen
Mit meinem Erwachen kam neuer Mut und die Hoffnung, dass bei Tag alles nur halb so schlimm ist wie in der Nacht. Dieser Optimismus verließ mich sofort, als ich eine Besichtigungstour durch mein Haus unternahm. Anscheinend gibt es in Kanada andere Hygienestandards als in Deutschland, was Studentenwohnungen betrifft. Meine Vormieter hatten ein solches Chaos hinterlassen, wie man es sonst nur bei RTL zur Primetime zu sehen bekommt. Ich war sehr geschockt, umso mehr, als alle mir versicherten, dies sei noch eine der besseren Wohngelegenheiten. In weiser Voraussicht hatte ich einige Putzmittel, z.B. meine Desinfektionstücher, mitgebracht und machte mich ans Werk meine Umgebung wohnlich oder zumindest keimfrei zu gestalten. Dazu kann ich nur sagen: wenn ihr die Möglichkeit habt, erst vor Ort auf Wohnungssuche zu gehen, nutzt sie. Im Internet wirkt vieles ganz anders. Nicht geirrt hatte ich mich hingegen bei der Wahl meiner Mitbewohner. Ich wurde sehr herzlich empfangen und in der Stadt herumgeführt. Meine Mitbewohner empfanden den Zustand des Hauses zwar nicht so dramatisch wie ich, fühlten sich im Chaos aber ebenfalls nicht besonders wohl. Also kauften wir Putzmittel und reinigten erstmal alles gründlich. Nach Rücksprache mit dem Vermieter war dieser sehr entgegenkommend und bot uns an, die Putzmittel und eine Reinigungskraft zu übernehmen. Das war eine sehr wichtige Erfahrung für mich, da ich zum einen feststellen konnte, dass man sich an alles gewöhnt und zum anderen, dass nichts aussichtslos ist und ich letztendlich mehr Unterstützung erfahren habe, als ich erwarte hatte.
Kingston – eine Stadt im Nirgendwo
Kingston ist eine Stadt in der kanadischen Provinz Ontario. Sie besitzt etwa 120.000 Einwohner und liegt direkt am Ontariosee. Kingston liegt mitten im Nirgendwo. Das ist eine sehr praktische Gegebenheit, da Kingston wirklich MITTEN im Nirgendwo, das heißt auf halber Strecke nach überall, liegt. So sind beispielsweise die Niagarafälle, Ottawa, Montreal und Toronto für kanadische Verhältnisse sehr gut zu erreichen. Obwohl die Innenstadt Kingstons im Prinzip nur aus zwei Hauptstraßen besteht, ist alles vorhanden, was man zum Leben und darüber hinaus benötigt. Für größere Unterfangen wie Shoppingtouren sollte man jedoch eher auf nahegelegene Großstädte ausweichen. Freizeittechnisch hat Kingston einiges zu bieten. Der Ontariosee geht in Kingston in den Sankt-Lorenz-Strom über, wo die Thousand Islands beginnen. Auf der Hauptinsel dieser 1864 Inseln habe ich während meiner ersten Woche eine Radtour unternommen, welche definitiv eins der Highlights meiner bisherigen Zeit in Kanada war.
Radtour nach Wolfe Island
Was unternimmt man bei über 36 Grad im Schatten an einem schönen Sommertag? Ganz klar, eine mehrstündige Fahrradtour über bergiges Gelände. Wir fuhren mit der Fähre nach Wolfe Island und mieteten dort in einem urigen kleinen Schuppen zwei klapprige Räder. Dann half uns der Fahrradverleiher dabei, eine geeignete Route auszuwählen. Nachdem er mir versichert hatte, dass die Route am Wasser entlang keine oder wirklich nur einen winzig kleinen Hügel besitzt, starteten wir. Das war eine glatte Lüge. Auf dem Weg zu dem „Geheimstrand“ schob ich mein Fahrrad mehr die zahlreichen Hügel hoch als ich tatsächlich fuhr.
Die Kanadier: Herzlichkeit, Offenheit & (Un-)Pünktlichkeit
Kanadier sind nach meiner Erfahrung wirklich sehr nette und offene Menschen. Ich habe mich sehr willkommen gefühlt und wurde sofort gut integriert. So nahm mich mein Mitbewohner beispielsweise zu seiner Kirchenchorprobe mit. Ich wurde sehr herzlich von der Gemeinde aufgenommen und sofort zu einem Barbecue eingeladen (das Essen war fantastisch!). Auch sonst fiel es mir nicht schwer sofort Freunde zu finden. Alle sind unglaublich nett und freundlich. Vor allem das hat dazu beigetragen, dass meine anfänglichen Startschwierigkeiten wie weggeblasen sind und ich mich jetzt sehr wohl in Kingston fühle. Obwohl ich erst so kurze Zeit hier bin, wünschte ich, ich könnte länger bleiben als nur drei Monate. Ich habe definitiv die richtige Entscheidung getroffen, hierher zu kommen. Eine deutsche Eigenschaft vermisse ich jedoch durchaus: Was die Pünktlichkeit betrifft, so nehmen es die Kanadier nicht sehr genau. Eine halbe Stunde ist als Verspätung durchaus akzeptabel. Ich wurde für meine übertriebene deutsche Pünktlichkeit bereits einige Male herzlich belächelt. À propos: lustigerweise scheint hier jeder ein paar Brocken deutsch zu können („Ich bin ein Schinken.“). Entgegen meiner Erwartungen ist auch die französische Sprache deutlich vertreten. Alles ist bilingual beschriftet und viele haben Französisch als Muttersprache. Obwohl ich europäisches Französisch recht gut verstehe, kann ich vor allem das „Quebecois“ kaum dekodieren. Es entstammt dem europäischen Französisch der Siedler aus dem 17. Jahrhundert und ist daher vor allem was die Aussprache betrifft sehr abweichend. Obwohl es mit der (hauptsächlich englischen) Verständigung besser funktioniert als erwartet, kam durchaus schon das ein oder andere Missverständnis zustande…
„Welcome to the Ghetto!“
Und was ist aus meinem Ghetto geworden? Nach dem ersten Treffen mit meiner Praktikumsbetreuerin erfuhr ich, dass das die gängige, liebevoll gemeinte Bezeichnung für die Gegend rund um den Campus ist.