6. April 2020
Erster Praktikumstag auf der Neurochirurgie: um 8:45 Uhr am Uniklinikum angefangen und um 4 Uhr morgens das Uniklinikum verlassen. Was ist in diesen 19 Stunden passiert?
7:30 Uhr
Mein Wecker klingelte zum vierten Mal. Ein letzter Versuch, meine schwere Decke von mir wegzureißen. Diesmal musste es klappen. Ansonsten verpasste ich den letzten Zug, um rechtzeitig zum Krankenhaus zu kommen. Ob ihr mir glaubt oder nicht: In diesem Moment kam ich in Versuchung, das Zeitmanagement unserer Deutsche Bahn zu vermissen, denn hier in Japan fahren die Züge überpünktlich.
Weil ich am ersten Tag nicht zu spät kommen wollte, stand ich auf und bewegte mich gleich in Richtung Dusche. Nach einem kurzen Kirimochi 切り餅 (rechteckige, getrocknete Reiskuchen) zum Frühstück sprang ich auf mein Rad und fuhr so schnell, wie es auf dem Gehweg möglich war, zum nächsten Bahnhof. Von dort rannte ich zum Zug.
8:45 Uhr
Auf die Minute genau erreichte ich das International Office und wurde vom Sekretariat zum Chefarzt der Neurochirurgie gebracht. Ich stellte mich mit meinem gebrochenen Japanisch vor und reichte ihm, wie es sich gehörte, ein schokoladiges Gastgeschenk aus der Heimat.
Danach erhielt ich einen kurzen Überblick, was mich innerhalb von 2 Wochen hier erwarten würde. Jeden Tag sollte ein neurochirurgischer Eingriff stattfinden und die Operationen wurden je nach Teilgebiet auf die Wochentage verteilt:
- Montag: Gefäßerkrankungen
- Dienstag: Funktionsstörungen
- Mittwoch: Rückenmarkserkrankungen
- Donnerstag / Freitag: Hirntumor
Da es auf der Neurochirurgie also keinen Lehrplan gab, betrat ich bei jeder Gelegenheit den Operationssaal. Dort verfolgte ich über einen Screen die einzelnen Schritte des Eingriffes. Je nach Chirurg durfte ich auch am Operationsgeschehen teilnehmen und assistieren.
10:00 Uhr
Die erste Operation sollte in wenigen Minuten beginnen: ein mehrere Zentimeter großer Gehirntumor (Schwellung) im rechten inneren Gehörgang. Ich durfte mich gemeinsam mit den Chirurgen „waschen“, das heißt, meine Hände und Unterarme desinfizieren. Ich zog einen Operationskittel an und stand mit am Tisch. So erlebte ich die Operation hautnah mit und durfte an manchen Stellen sogar assistieren. Währenddessen wurde mir der Vorgang Schritt für Schritt auf Englisch erklärt.
16:00 Uhr
Nach 6 Stunden wurde die Operation erfolgreich beendet und es war endlich Zeit für unser verspätetes Mittagessen. Leider war die Cafeteria bereits geschlossen, weshalb wir gemeinsam zum Konbini-Store gegangen sind. Es gab einen warmen Grüntee und ein paar Onigiris お握り(dreieckige Reisbällchen mit Füllung). Wie es oft der Fall ist, übernahm der Älteste die Kosten.
18:00 Uhr
An diesem Tag waren zwei internationale Gastredner in die Abteilung der Neurochirurgie eingeladen, um ihre aktuellen Forschungsergebnisse vorzustellen. Zwar bestand Anwesenheitspflicht für alle Stationsärzte und Studierende, dennoch wurde kein Wort gesagt, wenn jemand eingeschlafen ist. Also habe ich mich natürlich in die letzte Reihe gesetzt und versucht, meinen Kopf entgegen der Schwerkraft aufrecht zu halten. Bitte nicht vom Stuhl zu fallen!
19:00 Uhr
Montag- und Donnerstagabend fanden die Abteilungskonferenzen statt. Zu meinem Glück war es Montag, denn heute gab es kostenlose Bentos 弁当 (Lunchbox) für alle. Endlich die erste richtige Mahlzeit!
Zu Beginn der Konferenz sollte ich mich bei allen vorstellen und schaffte das gerade so „mit reduzierter Geschwindigkeit“ auf Japanisch. Mein „Tagesvolumen“ war aufgebraucht. Wenn man über 10 Stunden von einer Fremdsprache umgeben ist, die Bedeutung erraten musste oder einfach gar nichts verstanden hat, dann bleibt am Ende des Tages wenig Energie übrig.
Während der Konferenz wurden die Patienten von den verantwortlichen Stationsärzten auf Englisch vorgestellt und auf Japanisch diskutiert. Danach wurde jede Operation vor- und nachbesprochen.
20:00 Uhr
Nach einer Stunde durfte ich endlich offiziell nach Hause. Doch dann wurde eine Notoperation angekündigt: Eine Frau mittleren Alters erlitt eine Gehirnblutung, nachdem ein Hirngefäß geplatzt war. Das Resultat waren plötzlich einsetzende, sehr starke Kopfschmerzen, sogenannte Vernichtungskopfschmerzen.
Ich entschied mich, freiwillig zu bleiben. Ich wollte einen Eindruck davon bekommen, was es heißt, Neurochirurg zu sein. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie groß die körperliche und geistige Belastung für den Chirurgen war. Nach einem solchen Tag musste er nun wieder am Tisch stehen, um mit vollster Konzentration mikrochirurgisch (also mittels Mikroskop) die Gehirnblutung zu versorgen. Nur eine falsche Bewegung und die Patientin verlor ihr Leben.
In der Nacht gab es nur ein Anästhesie-Team und der Operationssaal war aufgrund einer Geburt belegt. Deshalb wurde die Patientin intensivmedizinisch überwacht und stabilisiert. Wir warteten.
21:30 Uhr
Die Notfalloperation begann. Ich versuchte am Bildschirm die einzelnen Operationsschritte mitzuverfolgen. Dabei kämpfte ich gegen meine Müdigkeit an und verlor diesen Kampf mehrere Male. Währenddessen versuchte das Team mit allen Mitteln, das Leben dieser Frau zu retten.
3:30 Uhr
Die Blutung wurde erfolgreich gestillt und die letzte Naht gesetzt. Geschafft! Innerhalb von 19 Stunden hat dieser Chirurg im wahrsten Sinne des Wortes zwei Leben gerettet. Doch schon nach 3 Stunden fing für ihn ein neuer Arbeitstag an. Für mich war das unvorstellbar!
Weil nachts kein Zug mehr gefahren ist, wurde ich schließlich vom Neurochirurgen zum Bahnhof gefahren. Auf dem Heimweg sagte er mir, dass er während seiner Assistenzarzt-Zeit gewohnt war, zu dieser Uhrzeit zu „Abend“ zu essen. Ich war jedoch für Essen zu erschöpft und wollte einfach nur ins Bett.
4:00 Uhr
Am Bahnhof stieg ich auf mein Fahrrad, fuhr nach Hause und fiel ins Bett. Was für ein Tag!