2. April 2018
Es fing alles wenig dramatisch an: ein wenig Wasser im Ohr und schon wurde „Sprichst du mit mir?“ zu meiner meist gestellten Frage. Als ich nach einer Woche immer noch nichts hören konnte, war klar – ein Ohrenarzt muss her. Meine armenische Kollegin machte sich auf die Suche und entdeckte eine HNO-Ärztin, die Deutsch spricht. Der einzige Haken: sie war bis zum nächsten Morgen um halb zehn in einem Krankenhaus in einem Außenbezirk von Eriwan. Und ich würde um zwei Uhr nachts noch am Flughafen sein, um meine Familie zu verabschieden.
Nach dem emotionalen Abschied von meinen Lieben am Flughafen stand ich vor einer schwierigen Entscheidung: ich konnte nach Hause fahren und ein wenig Schlaf bekommen, oder einfach direkt vom Flughafen in ein Taxi steigen und das Krankenhaus aufsuchen. Letzteres hielt ich für viel klüger, weshalb ich um drei Uhr nachts in Richtung Krankenhaus aufbrach. Ich wusste zu der Zeit noch nicht, dass ich diese Entscheidung bald bereuen würde.
Verständigungsprobleme im Krankenhaus
Schon auf der Fahrt bemerkte ich, dass ich eindeutig mitten im Nirgendwo gelandet war. Die Vermutung bestätigte sich, als ich endlich das Krankenhaus erreichte und scheinbar völlig allein in dem großen, leeren Gebäude war. Mit Schildern nur auf Armenisch. Zwar wusste ich, in welches Stockwerk ich musste, jedoch war es unmöglich, einen Aufzug oder eine Treppe zu finden. Endlich begegnete ich ein paar Menschen und fragte blauäugig auf Englisch, wo ich denn lang müsste, nur um mich in der Notaufnahme wieder zu finden. Nein, so schlimm war es auch wieder nicht. Als ich dann endlich auf Russisch schaffte zu erklären, dass ich einen Arzt für mein Ohr bräuchte, leuchtete das Gesicht der Schwester erleichtert auf und sie erklärte nickend, dass ich in den fünften Stock müsse, und zeigte mir sogar den Weg zum Aufzug.
Nächste Hürde: Die Bedienung des Aufzugs
Mir bot sich ein Anblick, der mich sprachlos werden ließ. Ich hätte nicht gedacht, dass ich in meinem Leben je unfähig sein würde, einen Aufzug zu bedienen – oder gar als solchen zu erkennen. Aber der Moment war gekommen. Hilflos versuchte ich, mich mit einer Putzkraft zu verständigen, damit sie mir erklärte, wie ich die Tür zum Aufzug öffnen konnte. Zu meinem Glück wurde ich von einer vorbeilaufenden Ärztin gerettet. Sie zog die schwere Eisentür auf, ließ mich in den unerwartet geräumigen, mit einem Blumenstrauß geschmückten Innenraum, und zog die schwere Aufzugtür zu.
Lässt ein verlassener Flur Böses erahnen?
Endlich erreichte ich die fünfte Etage und konnte mein Glück kaum fassen. Und plötzlich fand ich mich in einem Horrorfilm wieder. Eine komplett leere Etage. Eine geschlossene Glastür. Ein dunkler Flur. „Hallo?“, rief ich vorsichtig und bereute es sofort. Naive Menschen, die in Horrorfilmen „Hallo“ rufen, sterben immer zuerst. Jede Tür auf dem Flur war verriegelt, teilweise mit dicken Schlössern. Manche sahen aus, als wären sie schon seit Jahren nicht mehr geöffnet worden. Kurz davor einfach zu flüchten, kratzte ich meinen letzten Mut zusammen und klopfte heftig gegen die verschlossene aber lichtdurchflutete Glastür. Und tatsächlich kamen zwei Schwestern zum Vorschein, die weniger wie Statisten in einem Horrorfilm aussahen als viel mehr völlig verwirrt dreinschauten. Kein Wunder. Der Anblick einer blonden verängstigten Frau um halb vier Uhr nachts wir ihnen bestimmt nicht jeden Tag geboten.
Ärztliche Kompetenz erfordert kein Geld
Trotzdem öffneten sie die Tür und nach ein paar Verständigungsproblemen hatte ich endlich die deutschsprachige Ärztin gefunden. Mir täte es Leid, dass ich sie zu so später Stunde belästigte, versuchte ich mein nächtliches Erscheinen zu entschuldigen. (Die Tür war schließlich zu, wann genau also ihre Arbeitszeiten anfangen, weiß ich bis heute nicht). Trotz allem blieb sie aber freundlich und führte mich direkt in einen Behandlungsraum. Nachdem ich ihr erklärt hatte, was mein Problem war, durfte ich es mir auf einer Liege bequem machen. Auch dieses Mal hatte ich den Eindruck, als wäre die Liege vom Set eines Films, den ich nachts nicht alleine schauen würde. Zu meiner Erleichterung folgte aber kein Horror-Angriff. Stattdessen löste die Ärztin mein medizinisches Problem, sodass ich schnell wieder etwas hören konnte. Auf meine Frage, wo ich denn nun die ärztliche Leistung bezahlen müsste, schüttelte sie nur den Kopf. Schon gut.
Die Krönung des Abends: Die Taxifahrt
Überglücklich noch am Leben zu sein und noch dazu mit Hörkraft auf beiden Ohren ausgestattet, fand ich eine Treppe – nachdem ich den Aufzug alleine nicht aufbekommen konnte – und beeilte mich, zum Ausgang zu gelangen. Die Taxi-App, mit der ich in Eriwan normalerweise Taxis bestelle, wollte allerdings nicht funktionieren – kein Wunder, um diese Uhrzeit trieb sich sicher niemand in dieser Gegend herum. Nach zehn Minuten vergeblichen Wartens sprach ich jemanden an, um zu fragen, wo ich denn ein Taxi bekommen könnte. Wie so oft in Armenien, alles kein Problem: „Dahinten hat einer ein Taxi, warte hier!“ und schnell saß ich in einem eher inoffiziellen Taxi. Ein Auto, quasi. Mit einer halb kaputten Windschutzscheibe. Aber immerhin ein Auto.
Mit ratterndem Motor machten wir uns auf Richtung Innenstadt. Ganz plötzlich ergriff mich eine (irrationale) Angst. Was, wenn ich doch in ein zu zwielichtiges Auto gestiegen bin? Deshalb begann ich, mich mit dem Fahrer zu unterhalten. Neben wichtigen Gesprächen wie „Fährst du in Deutschland auch Auto?“ – „Nein, ich habe keinen Führerschein.“ – „Ach, ich auch nicht.“, stellte sich schnell heraus, dass sowohl seine Mutter als auch seine Schwester in Deutschland gelebt hatten und seine Schwester mit einem Deutschen verheiratet war. Schnell rief er beide an und ich sollte mich auf Deutsch mit ihnen unterhalten. Das lief in etwa so:
„Wie alt bist du, Hannah?“
„Vierundzwanzig.“
„Bist du verheiratet?“
„Nein, ich bin nicht verheiratet.“
„WAS?“ Kurzes Schweigen. „Du kannst uns jetzt besuchen kommen, wenn du möchtest.“
„Ehrlich gesagt würde ich jetzt gerne nach Hause. Es ist schon spät.“
„Okay, aber du kannst uns gerne irgendwann besuchen kommen!“
Ziemlich sicher, dass seine Schwester mich mit ihrem Bruder verheiraten wollte, aber auch auf Grund des Gesprächs mit der Familie des Taxifahrers beruhigt, dass er nun sicher nicht versuchen würde, eine meiner Nieren zu verkaufen, war die Fahrt sehr viel entspannter. Und tatsächlich kamen wir nur wenig später vor meiner Haustür an. Als ich bezahlen wollte, winkte mein Fahrer ab. Ich müsste nicht zahlen. Wie nett von meinem zukünftigen Ehemann.
Ende gut alles gut
Als ich um halb fünf dann endlich – das Nachtlicht angeschaltet, weil der Horrorfilm mir noch immer in den Knochen steckte – in meinem Bett lag und Revue passieren ließ, dachte ich sehnsüchtig an das Medical Center nur wenige Häuser von meiner Wohnung entfernt. Vielleicht hätte mich dort niemand verstanden. Aber vielleicht wäre das eine erträgliche Alternative zu meinem nächtlichen Ausflug gewesen. Und die Moral von der Geschicht‘? Ich weiß es selber nicht – so gruselig das Gesamtpaket auch war, so nett waren die Menschen, die einer verwirrten Deutschen geholfen haben. Und so seltsam die Räumlichkeiten auch waren, so effektiv war die Behandlung. Und manchmal hat man am Ende einfach eine neue Geschichte, bei der „Erlebe es“ definitiv ganz groß geschrieben wurde.