9. Februar 2020
Hätte ich gedacht, dass ich die ersten Tagen meines Auslandssemesters in Lissabon auf einem Highline-Trip in der Natur verbringen würde? Definitiv nein. War es dafür umso schöner? Definitivamente sim!
Ich liege im Bett in meiner neuen WG in Lissabon und bin so müde wie schon lange nicht mehr. An Schlaf ist nicht zu denken, weil gefühlte Zentimeter vor meiner Tür lautstark auf Portugiesisch diskutiert wird. Morgen werde ich wahrscheinlich gegen acht Uhr vom Bohren und Hämmern der gegenüber meines Zimmers liegenden kleinen Baustelle aus dem Schlaf gerissen werden. Ja, das Auslandssemester hat nicht nur schöne Seiten – vor allem, wenn man so geräuschempfindlich ist wie ich.
Murches: ein kleines Paradies nahe Lissabon
Jetzt vermisse ich den Ort, an dem ich die letzten Tage verbracht habe, umso mehr. Wie ein kleines Paradies kommt er mir in meinem ungemütlichen Dämmerzustand vor. Das Plätschern des kleinen Flusses, der sich durch die grüne Landschaft schlängelt. Die gelben und blauen Blumen am Rand des kleinen Pfades neben dem Fluss. Der Klee, der zwischen den Blumen wächst wie Gras. Und der Blick aus dem Zelt auf hohe Eukalyptusbäume, deren Rinde sich zu schälen scheint.
Eukalyptusbäume sind eigentlich nicht besonders gut für die Natur hier, erzählt mir Diogo. Sie wachsen unglaublich schnell und ziehen unglaublich viel Wasser aus dem Boden. Das macht den Rest der Landschaft noch trockener und lässt andere Pflanzen absterben. Diogo wohnt ganz in der Nähe des kleinen Paradieses mit den bösen Eukalyptusbäumen. Er holt mich vor zwei Tagen in seinem kleinen gelben Auto am Bahnhof in São João ab. Aber von vorne.
Slackline Lisboa
Es ist Montagabend. Mein erster Tag alleine in Lissabon steht bevor. Über Facebook habe ich schon länger Kontakt zur Slackline Lisboa-Whatsapp-Gruppe. Dort spielt sich zwar fast alles nur auf Portugiesisch ab, aber ich habe das Wort „Highlining“ erspäht. Highlinen ist Slacklinen, also das Balancieren auf einem schmalen Band, in luftiger Höhe und seit einigen Monaten eine große Leidenschaft von mir. Per Google Translate erfahre ich, dass einige aus der Gruppe am nächsten Tag einen Highlining-Trip planen. Ich frage, ob sie noch jemanden mitnehmen würden und dann kommt eins zum anderen. Ich kann gar nicht nachdenken, so schnell habe ich einen Platz im Auto sicher. Aber egal, so oder so will ich unbedingt mit.
Also sitze ich am nächsten Tag in dem kleinen gelben Auto auf dem Weg nach Murches Cascais, wo die Highline gespannt werden soll. Dort angekommen sind wir mitten in der Natur. Ich merke, wie sehr ich die Ruhe vermisst habe. Lissabon mag zwar eine sehr schöne Stadt sein, aber sie ist auch laut und voll und stickig. Die Stille und die saubere Luft sind eine willkommene Abwechslung. Die Gegend ist voll grüner Büsche, Felsen und Eukalyptusbäume. Zwischen zwei der Felsen soll die 100 Meter lange Line gespannt werden. An den Felsen kann man auch gut klettern. Weil der Rest der Gruppe etwas auf sich warten lässt, klettern wir noch ein bisschen. Ich bin noch nie am freien Fels geklettert und finde es toll. Ich will das auf jeden Fall bald wiederholen. Irgendwann kommen die anderen doch. Küsschen rechts, Küsschen links, so begrüßt man sich anscheinend hier. Wir sind zu siebt, eine bunte Truppe aus Portugiesen, Brasilianern, Italienern und Franzosen. Und dann geht der Aufbau der Highline los. Das dauert seine Zeit, aber macht Spaß.
Immer fast am Fliegen
Als ich das erste Mal auf der Line bin, ist es schon gegen Abend und wird immer windiger. Auf so einer langen Line stand ich noch nie und es fühlt sich anfangs sehr wackelig an. Aber auch unglaublich gut. Und vertraut und neu und alles zusammen. Ich muss mich immer wieder daran erinnern, wo ich eigentlich gerade bin und wie schön es dort ist. Die Line bewegt sich langsam und sanft und ich habe das Gefühl, ganz weit weg zu sein von allem. Das mag ich so am Highlinen: Die Zeit auf der Line gehört nur dir. Wenn ich mich irgendwo wirklich frei fühle, dann in diesem Moment.
Spontane Camping-Nacht
Irgendwie lasse ich mich überreden, noch eine Nacht dort zu campen. Zelt und Schlafsack sind schnell organisiert. Überhaupt sind alle unglaublich hilfsbereit und offen. Auch wenn viel auf Portugiesisch abläuft, fühle ich mich nie ausgeschlossen. Irgendjemand erbarmt sich immer, mir auf Englisch zu übersetzen. Es macht mir aber auch nichts, nur zuzuhören und zu versuchen, die Sprache in mich aufzunehmen. Auf jeden Fall motiviert es mich sehr, Portugiesisch zu lernen.
Ich bin froh, noch etwas länger an diesem friedlichen Ort zu bleiben. Gekocht wird auf einem kleinen Campingkocher – ein großer Topf mit Zitronen-Parmesan-Risotto und zum Nachtisch gibt es Schokolade mit Rotwein. Die Nacht ist kalt und als morgens die ersten Sonnenstrahlen aufs Zelt treffen, bleibe ich noch etwas länger im Schlafsack liegen. Die anderen sind schon wach und jonglieren, als ich aus dem Zelt komme. Jeder macht, was er will und ich will am liebsten nie mehr weg. Ich bin an dem Tag noch zweimal auf der Line und mache meine ersten Schritte. Bei jedem Mal fühle ich mich sicherer und kann nicht glauben, dass ich tatsächlich auf einer 100 Meter Line laufe. Auch den anderen zuzugucken macht Spaß. Wir verbringen die meiste Zeit oben auf den Felsen bei der Highline und erkunden etwas die Gegend. Es sind sehr schöne Momente.
Immer noch fast am Fliegen
Zurück in meiner WG in Lissabon kann ich nicht anders als glücklich sein, in meinem kleinen Zimmer neben der Baustelle, wenn ich an die Tage zurückdenke. Ich bin froh, dass ich so spontan war. Die Tage, vor denen ich die Aufregung am meisten im Bauch spüre, werden immer die besten, das habe ich schon länger gelernt.