14. September 2021
Sicher warst du, genauso wie ich, schon einmal im Urlaub. Aber es ist ein ganz anderes Gefühl, wenn du weißt, dass du für das nächste halbe Jahr nun dort leben sollst. Ich versuche dir das Gefühl im Folgenden näher zu erklären und verarbeite so meine ersten drei Wochen in meiner neuen Heimat Tallinn, Estland.
Step 1: Von Vorfreude bis Überforderung
Am Flughafen war ich traurig, dass ich meine Liebsten in Deutschland nun für ein halbes Jahr nicht mehr sehen werde. Dabei ist auch die eine oder andere Träne geflossen. Aber obwohl mir der Abschied schwer gefallen ist, hat sich eine Vorfreude in mir breit gemacht. Ich freue mich darauf, viele neue Eindrücke zu sammeln, andere Menschen kennenzulernen und die Reise ins Ungewisse anzutreten. Vor allem nach der langen Zeit mit Einschränkungen aufgrund von Corona kann ich es kaum abwarten, in ein neues Abenteuer zu stürzen. Diese Vorfreude verflog jedoch ziemlich schnell und die Realität holte mich ein. Ich möchte nicht von einem Kulturschock reden – Estland ist immerhin ein Land in der europäischen Union und nicht am anderen Ende der Welt – aber es hat mich schon beschäftigt. Ich habe mich fremd gefühlt und war überfordert mit der Situation, nun auf mich allein gestellt zu sein.
Step 2: Kleinigkeiten addieren sich
Diese innere Unruhe entsteht bei mir durch viele Kleinigkeiten, die zusammengekommen sind. Angefangen bei der WG, die ich über Facebook schon bereits in Deutschland gemietet habe. Als ich hier angekommen bin, war alles verdreckt. Da war Schimmel im Bad, dreckiges Geschirr in der Küche und ein nicht funktionierender Abfluss in der Dusche. Auch mit der Sprache und den öffentlichen Verkehrsmitteln war ich überfordert. Wie komme ich von einem Ort zum anderen und wie finde ich mich im Alltag zurecht, ohne die estnische Sprache zu sprechen? Was kaufe ich da im Supermarkt gerade eigentlich? Des Weiteren habe ich in ziemlich kurzer Zeit so viele neue Menschen kennengelernt, dass ich mich nicht mal mehr an deren Namen erinnern konnte. So viele neue Eindrücke, die ich, so schnell wie ich sie erlebe, gar nicht verarbeiten kann.
Step 3: Alles braucht Zeit
Aber jetzt, nach drei Wochen in Tallinn, kann ich sagen: Das war es alles wert! Nach bereits so kurzer Zeit habe ich mich an viele Dinge gewöhnt und fange an, Estland besser zu verstehen. Viele Sachen, die mich stören, kann ich beeinflussen, wie zum Beispiel die Sauberkeit in der neuen Wohnung, meiner Heimat für das nächste halbe Jahr. Meine zwei Mitbewohner und ich haben die WG zwei Tage lang geputzt und fühlen uns nun fast wie „zuhause“ hier. Andere, nicht beeinflussbare Dinge, möchte ich durch Reflektion versuchen zu akzeptieren, um selbst daran wachsen zu können. Zum Beispiel kenne ich mich nun auch schon mit den öffentlichen Verkehrsmitteln aus, auch ohne die estnische Sprache zu sprechen. Diese Sprache sowie die estnische Kultur lerne ich zwar nicht von heute auf morgen, jedoch nähere ich mich dieser Stück für Stück an. Auch wenn ich meine Freunde und Familie zuhause vermisse, habe ich hier bereits Menschen gefunden, mit denen ich mich sehr gut verstehe und die mit ähnlichen Herausforderungen zu kämpfen haben. Mittlerweile kann ich mir sogar auch deren Namen merken (zumindest den ein oder anderen).
So langsam komme ich also an und lerne neben Estland auch mich selbst ein wenig besser kennen. Vielleicht werde ich am Ende der Zeit hier sogar Tallinn als einen Ort sehen, den ich als eine neue, weitere Heimat bezeichnen kann? Ich hoffe es zumindest sehr.