11. Oktober 2020
Am Montag, 5. Oktober, beginnt das Semester. Die vorausgehenden Wochen waren chaotisch … und chaotisch geht es weiter. Über 665 Kameras, leere Online-Seminare und den Club der toten Dichter.
Ich bin eine halbe Stunde zu früh. Im Präsenzunterricht wäre das nicht gern gesehen. Wegen der hohen Coronainfektionszahlen in Spanien (hier sagt man übrigens eher „covid“), werden Studierende gebeten, sich so kurz wie möglich im Unigebäude aufzuhalten.
Aber da bin ich gar nicht. Ich sitze vor dem Rechner. An der Facultad de Comunicación (Fcom) sind wir in drei Untergruppen eingeteilt worden. Der Präsenzunterricht findet im Wechsel statt. Heißt für mich in Untergruppe 2 konkret: diese Woche sitze ich am Laptop, nächste Woche in der Uni, dann wieder zwei Wochen am Laptop und so weiter.
Für die Distanzlehre hat die Universidad de Sevilla (US) satte 665 Kameras in ihren Vorlesungssälen installieren lassen. 17:30 Uhr. Ich warte darauf, dass der Professor sich vor eine dieser Kameras stellt.
Aber irgendwie habe ich wenig Hoffnung. Ich checke die Kursteilnehmerliste. Es sind über 50 Mitstudierende, aber irgendein Vöglein muss den anderen gezwitschert haben, dass es heute keinen Live-Stream geben wird. Ich checke, ob ich auch wirklich im richtigen Raum bin – ja, bin ich. Ich warte noch eine halbe Stunde, dann war’s das mit meiner ersten spanischen Uni-Veranstaltung. Schulterzucken. Ärgerlich.
Am Dienstagvormittag gibt es eine Einführungsveranstaltung für alle Neuzugänge der Fcom – natürlich online. Der Hashtag der Veranstaltung ist – wirklich wahr: #comencamosquenoespoco, frei übersetzt: „Wir beginnen (das Semester) und das ist doch schon mal was“. Die Verantwortlichen der Fakultät stellen sich vor, nennen ein paar Zahlen („3.000 Studierende“, „vier Master-Studiengänge“) und ein paar Verhaltensregeln („kommt statt mit dem Bus zu Fuß zur Uni, wenn es geht“).
Nach einer Stunde muss ich den Stream verlassen, denn dann habe ich die nächste Vorlesung … denke ich.
Ich bin erleichtert: es sind tatsächlich 28 Teilnehmende im virtuellen Raum. Wir warten auf den Professor. Dann verlassen fünf Personen die Konferenz … dann treten nochmal vier aus … dann sind sieben weitere Studierende weg. Am Ende sitze ich wieder alleine da und beiße in die Tischplatte.
Kleine große Erfolge
Um 17:30 Uhr kann ich an meiner ersten Uni-Veranstaltung teilnehmen – Geschichte des (universellen) Journalismus‘. Die Technik funktioniert einwandfrei. Der Professor steht vor der Tafel – ein Drittel des Seminars ist im selben Raum wie er, wir anderen schauen ihm über eine Kamera zu. Eine französische Austauschstudentin ist vor Ort. Er bittet sie, Bescheid zu sagen, wenn sie Probleme habe ihn mit seinem andalusischen Dialekt und der Maske im Gesicht zu verstehen.
Ich verstehe ihn sehr gut. Er ist einer von zwei Professoren, die ich diese Woche kennenlernen durfte. Beide erinnern mich etwas an den Lehrer aus dem „Club der toten Dichter“. Sie sind Feuer und Flamme – einer bezeichnet sich selbst als „Showman“ – und setzen es sich beide zum Ziel, uns für das Fach und den Beruf des Journalisten zu begeistern.
Das motiviert mich für mein erstes Uni-Semester in spanischer Sprache. Die Woche hat trotzdem einen faden Beigeschmack hinterlassen. Freitag, beim zweiten Teil der Montagsvorlesung, bin ich kaum noch überrascht, dass ich wieder der einzige Teilnehmer im Raum bin. Mich ärgert es, dass die anderen Studierende offenbar Bescheid wissen und gar nicht erst erscheinen. Sind es nicht gerade die Erasmus-Studierenden, die über solche Dinge informiert werden sollten? Unterm Strich habe ich in der ersten Uni-Woche also an vier von acht Veranstaltungen teilgenommen.
Meckere ich über Kleinigkeiten? Nun ja, das Problem ist Folgendes:
Als Erasmus-Student muss ich eine gewisse Anzahl Leistungspunkte absolvieren, andernfalls verliere ich mein Stipendium. Um diese (in meinem Fall 15) Punkte an der Uni in Sevilla zu erreichen, muss ich drei Kurse bestehen – nicht bloß belegen, auch bestehen. Wenn von meinen vier Kursen nun zwei gar nicht stattfinden … nun ja, dann habe ich ein Problem.
Ich heule mich bei meinem Mitbewohner aus. Pepe – sein zweiter Vorname ist Gelassenheit – meint, ich solle die nächste Woche abwarten. Dann habe ich Präsenzunterricht und werde schon sehen, wo die Professoren stecken. Vor Ort, in diesem besonderen Semester.