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Interview: „Auslandsaufenthalte im Medizinstudium schärfen das Bewusstsein für andere Kulturen und Bedürfnisse“

Türkei, Kanada, Israel – drei Auslandsaufenthalte hat Rodion Ozerski während seines Medizinstudiums an der Berliner Charité absolviert. Heute ist er Facharzt für Anästhesie und arbeitet in einem großen Klinikverbund in Berlin. Die Erinnerungen an seine Erfahrungen im Ausland sind für ihn knapp 13 Jahre später immer noch sehr präsent. Mehr noch: Sie haben ihn geprägt und lassen ihn immer noch weiterdenken. Mit welcher Motivation er ins Ausland gestartet ist und welche Erfahrungen ihn besonders geprägt haben, erzählt er im Interview.

Rodion Ozerski, Facharzt für Anästhesie
Rodion Ozerski, Facharzt für Anästhesie

Rodion, in welchen Ländern warst du während deines Medizinstudiums und welche Motivation hat dich angetrieben?

Ich habe mir jeweils eine Famulatur in der Türkei und in Kanada selbst organisiert und ebenso ein PJ, in dem ich ein Tertial zur Hälfte in Israel und zur Hälfte in Deutschland absolviert habe. Ich bin immer gern gereist. Das ist sicher auch eine Grundvoraussetzung für einen Auslandsaufenthalt, dass man sich nicht nur mit einem einzigen Ort verbunden fühlt. Es hat mich schon immer sehr gereizt, nicht nur ein Land zu bereisen, sondern zumindest für kurze Zeit ansatzweise Teil des Alltags und Teil der Gesellschaft zu sein. Vor meiner zweiten Famulatur im Ausland, in Halifax an der Ostküste von Kanada, hatte ich viel Kontakt mit Erasmusstudierenden. Zu der Zeit wohnte in meiner WG auch eine Erasmusstudentin aus Madrid. Durch sie habe ich viele Erasmusstudierende kennengelernt – nicht nur Medizinstudierende, und das hat meine Absicht noch mal gefestigt, länger als nur für einen Monat ins Ausland zu gehen. Deswegen bin ich nach der Famulatur in Kanada zum PJ nach Israel gegangen.

Türkei, Kanada, Israel – warum hast du dich für diese Destinationen entschieden?

Ich war in Istanbul, Halifax und Haifa – drei völlig verschiedene Destinationen, aber sie haben auch Gemeinsamkeiten. Ich war für einen Monat an einer Privatklinik in Istanbul, diese Möglichkeit hat sich über eine Freundin in Berlin ergeben. Für Kanada und auch für Halifax habe ich mich bewusst entschieden. Für die Famulatur dort habe ich mich über ein Austauschprogramm der Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland e. V. (bvmd) beworben. Zu dieser Zeit war ich in Berlin beim bvmd selbst aktiv und habe Auslandsfamulierende betreut. Es gab pro Semester für Kanada deutschlandweit nur vier Studienplätze und für einen davon habe ich eine Zusage erhalten. Nach Israel wollte ich, um dort den Alltag vor Ort richtig zu erleben – die Familie meines Vaters lebt dort.

Welche Erfahrung, die du im Ausland gemacht hast, prägen deine Arbeit bis heute?

So einige, muss ich sage. In der Rettungsstelle in Israel zum Beispiel war es so, das strenggläubige Menschen sich oft nicht vom anderen Geschlecht behandeln lassen wollten.

Im Prinzip denke ich: Im Notfall muss man sich einfach von jedem und jeder behandeln lassen – weil es eben ein Notfall ist. Dennoch ist es bei meiner Arbeit heute auch so, dass wir Kolleg:innen dazu holen, die die jeweilige Sprache sprechen. Sodass man fragen kann, ob es in Ordnung ist, etwa das Kopftuch abzunehmen. Manchmal muss das abgeklärt werden – auch im OP. Die Patientinnen bekommen zwar auch ihre Haube auf, aber der Moment dazwischen, wo die Frau ihr Kopftuch abnimmt und die Haare sichtbar sind, dann ist es schon so, dass wir einen extra Raum anbieten, um das für sich tun zu können. Meine Sinne dafür, mein Bewusstsein für andere Kulturen und Bedürfnisse wurden durch die Erfahrungen, die ich im Ausland gemacht habe, geschärft und haben mich weiterdenken lassen.

Ich arbeite jetzt auch auf der Intensivstation. Da haben wir oft auch ethische Fragestellungen. Ich habe im Ernst von Bergmann Klinikum in Potsdam gearbeitet und wir hatten sehr viele Patient:innen aus Tschetschenien, die oft sehr religiöse Moslems waren, und da muss man ehrlich sein, da stellen sich viele Fragen einfach nicht. Das muss man auch lernen – wie zum Beispiel beim Thema Organspende.

Was mich in Kanada und Israel so positiv beeindruckt hat, ist, dass die Herkunft überhaupt keine Rolle gespielt hat ­– im positiven Sinn. Es sind einfach Melting Pots. Das hat mich auch dazu gebracht, bei meiner Arbeit jetzt noch sensibler damit umzugehen, wenn wir Patient:innen aus anderen Kulturkreisen haben und auch Kolleg:innen darauf hinzuweisen, so manches mal anders mit Situationen umzugehen.

Zu welchen Zeitpunkten in deinem Studium warst du im Ausland?

In Istanbul war ich 2008 zu Beginn meines klinischen Studienabschnitts. Damals gab es noch den vorklinischen und den klinischen Studienabschnitt, sprich die Zeit bis zum Physikum und nach dem Physikum. Die Zeit in Istanbul war meine zweite Famulatur im klinischen Abschnitt. In Kanada war ich im fünften Jahr meines Studiums, das war meine letzte Famulatur. Man konnte damals nur im letzten Studienjahr vor dem PJ über den bvmd nach Nordamerika gehen. Was Israel betrifft: Für mein PJ wollte ich ein ganzes Tertial im Ausland bleiben. Dann habe ich mich allerdings nur für ein halbes Tertial entschieden, damals wollte ich noch Chirurg werden. Und es ist in der Regel einfacher, in der Chirurgie zu arbeiten, wenn man ins nicht-deutschsprachige Ausland geht und die Sprache dort nicht fließend beherrscht. Man ist oft im OP und hat nicht so viel Patientenkontakt – im Gegensatz zur Inneren, da muss man ja deutlich besser die Sprache sprechen, weil der Kontakt zu den Patient:innen viel enger ist. Ich habe viel über das PJ in Israel gelesen und wusste, wie viel ich dort wirklich aktiv machen kann. Und um safe zu sein und wirklich noch viel mehr zum Zuge zu kommen, habe ich mein Tertial geteilt und die zweite Hälfte in Deutschland gemacht. Damals konnte man ein Tertial problemlos teilen.

Du hast also im Ausland, im PJ und der Famulatur in deinen beiden bevorzugten medizinischen Fachbereichen gearbeitet und dir ein Bild gemacht. Was hat dich in Kanada und Israel besonders geprägt?

In Israel war ich an der Uniklinik in Haifa – keine Frage, da wird auch viel Geld ins Gesundheitswesen gesteckt, aber es fehlten zum Beispiel so banale Dinge wie Stauschläuche für die Blutabnahme oder teilweise gab es keine Handschuhe für Alltagstätigkeiten. Das ist in Deutschland undenkbar, dass es keinen Stauschlauch gibt.

Ich habe in Israel einmal pro Woche einen Bereitschaftsdienst mitgemacht und bin über Nacht geblieben und musste zusehen, wo ich schlafe, teilweise in der Rettungsstelle. Es gab auch kein richtiges Bereitschaftszimmer für die Assistenzärzte, die mussten in einem leeren Patientenzimmer schlafen oder im Sekretariat vom Chef auf einem Klappbett. Da lernt man mit umzugehen und man wird auch demütig und weiß viele Dinge mehr zu schätzen, was Deutschland betrifft.

Andererseits habe ich gesehen, wie es in Nordamerika ist. Die Bereitschaftszimmer waren zwar auch eine Katastrophe (lacht), aber die Kolleg:innen und angehenden Mediziner:innen arbeiten viel mehr als wir hier. Was mir aufgefallen ist: Es gab in Kanada viel mehr Struktur, viel mehr Lehre und deswegen wurde auch viel mehr von einem gefordert, weil man weiß, dass das Wissen vermittelt wurde. Es gab nicht diesen Kontrast, der während meines Studiums in Deutschland oft aufgefallen ist, dass von einem Dinge verlangt wurden, die man gar nicht beigebracht bekommen hat. Da war man vor Ort in Kanada schon ein bisschen ehrfürchtig und hat sich zwangsläufig gedacht: Okay, ich geh ins PJ und diese Dinge müsste ich eigentlich können, aber ich kann sie noch nicht. Es hat mich aber auch noch mehr motiviert, das PJ im Ausland zu nutzen, um richtig viel zu lernen. Das ist das, was mich medizinisch weitergebracht hat.

Welche Erfahrungen haben dich persönlich wachsen lassen?

Die Erfahrung, auf mich allein gestellt zu sein. Eigenständigkeit war gefragt, ich musste mich selbst organisieren. Ich musste mich an bestimmte Gegebenheiten anpassen – auch in meinem Alltag. Sprache ist eine Sache und die verschiedenen Kulturen. Man muss immer schauen, was um einen herum ist und passiert, und es gehört dazu, einen anderen Alltag zu leben und zu sehen, was haben die Leute, was haben sie nicht. Was hat man selbst im Vergleich zu ihnen. Man bekommt einfach einen anderen Blick für vieles. Das alles erlebt zu haben, hat mich definitiv weitergebracht.

Inwieweit war die Zeit im Ausland eine sprachliche Herausforderung?

Ich konnte ein bisschen Türkisch, aber das hätte höchstens dafür gereicht, um nach dem Weg zu fragen und Essen zu bestellen und ein paar Phrasen, die man als im Wedding groß gewordener aufgreift. In der Privatklinik in Istanbul haben die meisten Ärzt:innen, die dort gearbeitet haben, entweder komplett im Ausland studiert oder für eine längere Zeit im Ausland gelebt. Die Famulatur war auf Englisch und Deutsch, weil viele der Kolleg:innen mit denen ich in der Türkei gearbeitet habe, einen Teil ihres Studiums in englisch- oder deutschsprachigen Ländern gemacht oder teilweise auch in Deutschland gearbeitet haben.

Ich habe ein bilinguales Abitur gemacht, das heißt, dass Alltags-Englisch war auch für Kanada solide genug. Ich bin vor der Famulatur schon zwei Mal in Nordamerika umhergereist und habe sozusagen den Alltag mit der englischen Sprache ausprobiert. Und was das Medizinische betrifft, war das kein Problem, weil es einfach Fachjargon ist, das heißt, man kennt die Begriffe. Plus: Ich habe damals auch schon angefangen, an meiner Doktorarbeit zu arbeiten. Viele Paper sind auf Englisch und wissenschaftliches Englisch ist dabei unumgänglich. Hebräisch konnte ich auf Alltagsniveau. Englisch war ein Vorteil in Israel, viele junge Menschen sprechen dort sehr gut Englisch. Zudem bin ich russischer Muttersprachler und gerade die älteren Patient:innen in Israel waren zu einem sehr großen Teil sowjetstämmig – das war für mich sprachlich also kein Problem.

Ein Auslandsaufenthalt ist mit organisatorischem Aufwand verbunden – wie groß war der bei dir?

Es war kein Aufwand, der mich davon abgehalten hätte, ins Ausland zu gehen. Das sollte es auch nicht, wenn man es wirklich will. Für Kanada war der Aufwand wahrscheinlich am größten. Da brauchte ich ein ordentliches zweiseitiges Motivationsschreiben auf Englisch. Ich musste einen B2-Sprachtest machen und weil der Aufenthalt in Kooperation mit dem bvmd stand, musste ich dort noch bestimmte Kriterien erfüllen. Ich war sehr froh, die Möglichkeit zur Famulatur bekommen zu haben.

Wie hast du deine Aufenthalte im Ausland finanziert?

Ich habe immer gearbeitet, habe in Deutschland BAföG erhalten, aber leider kein AuslandsBAföG. Beides zu bekommen ging damals nicht. Vom bvmd gab es eine einmalige Unterstützung von 200 kanadischen Dollar. Zwei Mal einkaufen in Kanada und zack war alles weg (lacht).

Inwieweit hattest du bei deinem vollgepackten Klinikalltag, Fortbildungen und Nachtdiensten noch Freizeit, in der du Land und Leute kennenlernen konntest?

Es stimmt, man ist in erster Linie viel im Krankenhaus, hat eine reguläre 4- bis 5-Tage-Woche, aber andererseits hat man dadurch auch einen richtigen Alltag. Man arbeitet, man geht nach Hause, man wohnt in einer WG oder bei Bekannten, bei Verwandten und bekommt ja dadurch auch den Alltag von anderen mit, lernt Einheimische und andere Studierende kennen, mit denen man sich dann auch austauschen kann. Nicht nur aus dem Medizinstudium, auch aus anderen Studiengängen. Man verbringt Zeit miteinander und das bereichert einen ungemein.

Wenn ich so zurückdenke – in der Türkei, war es ein bisschen schwieriger, weil in der Privatklinik insgesamt kaum Studierende waren. Aber mit ein paar Leuten aus dem OP bin ich dann auch mal weggegangen. Und in Kanada – Nordamerikaner sind sehr aufgeschlossen. Ich habe auch viel mit Kolleg:innen unternommen. Wir haben uns auch am Wochenende immer getroffen.

Was würdest du Medizinstudierenden raten, die vor der Entscheidung stehen, ob sie ins Ausland gehen sollten oder nicht?

Machen – auf jeden Fall machen. Diese Gelegenheit ergibt sich einfach nie wieder so leicht. Man hat so viel Förderungsmöglichkeiten, ob das jetzt Erasmus ist oder andere Austauschprogramme. Man lernt eine andere Sprache, vielleicht sogar mehrere – selbst wenn man sie danach nicht benutzt, aber man hat auf jeden Fall einen Zugang dazu bekommen. Man sieht den Alltag in einer anderen Kultur und vielleicht merkt man dadurch auch, dass man selbst eine Zeit lang mal woanders leben möchte. Jede Erfahrung bringt etwas, in dem Bewusstsein sollte man alles angehen und keine Herausforderung scheuen.

Was sagst du zu der Aussage „Ein Auslandsaufenthalt ist das Plus für die berufliche Zukunft!“?

Ob es das Plus ist, weiß ich nicht. Es kommt drauf an, was man anstrebt. Wenn jemand perspektivisch nach Spanien auswandern möchte, dann ist ein Erasmusjahr in Spanien top. Es qualifiziert einen dann nicht schneller dort einen Job zu bekommen, weil es sehr schwierig ist, in Spanien als Mediziner:in zu arbeiten – fast so schwierig wie in den USA. Aber es schult, es bereitet einen vor, es zeigt einem, was man alles schaffen kann, es sensibilisiert einen für die Bedürfnisse anderer Kulturen. In Israel und Kanada sind Studierende, Mediziner:innen, Menschen von überall aus der Welt. Ich habe mit Ärzt:innen aus Saudi-Arabien, aus Ostasien oder den USA zusammengearbeitet. In der Türkei hatten, wie schon erwähnt, viele Kolleg:innen große Auslandserfahrungen. Viele Israelis haben schon in den USA, Kanada, Großbritannien oder Australien gearbeitet. Die Bewegung von medizinischem Fachpersonal ist immens.

Inwieweit war deine Auslanderfahrung ein Thema bei Vorstellungsgesprächen oder auch später im Gespräch mit Kolleg:innen oder Studierenden?

Ich habe es immer mit angegeben. Ich habe auch angegeben, dass ich zu Studienzeiten in einem Café gearbeitet habe und da Schichtleiter war. Meine Auslandsaufenthalte waren Thema im Vorstellungsgespräch, aber kein großes. Im Gespräch mit Kolleg:innen oder Studierenden sind meine Erfahrungen das dagegen immer noch. Ich werde schon gefragt, wie es war oder ob ich etwas empfehlen kann. Wir haben ja auch Studierende im PJ oder Famulierende bei uns und die frage ich auch: Willst du ins Ausland gehen für dein PJ oder für eine Famulatur? Gerade in Deutschland, wo wir ja auch eine Einwanderungskultur haben und in einer Stadt wie Berlin, wo man viel mit anderen Kulturen zu tun hat – auch in der Medizin – sind diese Erfahrungen wichtig. Stichwort Ethnomedizin: Man muss viele Dinge berücksichtigen, die man vielleicht als jemand, der nur in Deutschland gelebt hat, gar nicht auf dem Schirm hat. Ich habe das in Israel mitbekommen: Wir hatten viele strengreligiöse Menschen, sowohl Juden als auch Moslems. Mit strengreligiösen Juden hat man in Deutschland jetzt vielleicht nicht so viel zu tun – mit anderen strenggläubigen Konfessionen schon und es ist immer wichtig, sich die Frage zu stellen, wie man bestimmte Entscheidungen angeht. Dazu gehören bestimmte ethische Entscheidungen, Genderfragen, wie spricht man bestimmte Dinge an und dazu kommt auch, wie man selbst wahrgenommen wird. In Israel musste zum Beispiel immer ein:e arabisch und ein:e russischsprechende Kolleg:in in der Rettungsstelle arbeiten, damit jeder und jede auch angesprochen werden konnten.

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