26. August 2019
Ich sitze in meinem Wohnheimzimmer, in dem ich mich schon wie zuhause fühle, weil ich es mit Liebe eingerichtet habe. Meine Mitbewohnerin, die ich ins Herz geschlossen habe, ist nicht da. Ich bin erleichtert, denn heute möchte ich niemanden mehr sehen.
Ich setze mich auf die Bettkante und starre einige Sekunden auf den Bildschirm meines Handys. „Sorry, our graphic design courses are only open to students of our own faculty” steht da. Nichts weiter, kein Vorschlag für einen Kompromiss oder eine Alternative, eine unpersönliche Grußformel und Tschüss. Während meines Bachelorstudiums hatte ich mich geärgert, kein praktischeres Studium gewählt zu haben. Keines, dass es mir erlaubt hätte, mehr gestalterisch tätig zu werden. Bis zu dieser E-Mail hatte ich gehofft, während meines Masters in Media Education, ein Fach, das ich bewusst gewählt und von dem ich nach wie vor überzeugt bin, ein paar Kurse zu nehmen, die aus meinem Hobby Fachwissen machen würden.
Doch jetzt fühle ich mich vor den Kopf gestoßen. Alles, worauf ich gehofft hatte, zerplatzt in einer Sekunde wie eine Seifenblase. Ich fühle mich dumm. Und naiv. Weil ich alles geglaubt habe, das Leute, die in Finnland studieren, mir von ihren guten Erfahrungen mit dem offenen Unisystem vorgeschwärmt haben. Weil ich die Mail mit der Frage, ob ich Kurse anderer Fakultäten belegen kann, nicht schon vor einem Jahr geschrieben habe, als ich mich auf den Studiengang bewarb. Dann beginne ich alles was ich jemals getan habe und alle meine Entscheidungen der letzten fünf Jahre zu hinterfragen.
Und plötzlich ist alles zu viel. Tränen steigen mir in die Augen. Mein Unterbewusstsein fasst alle kleinen Unannehmlichkeiten, jede nicht ganz so freundliche Antwort der letzten Tage, jede Situation, in der ich mich unwohl oder fehl am Platz gefühlt habe zusammen – und davon gibt es eine Menge in einer Orientierungswoche in einem fremden Land – und konzentriert sie zu einem großen Klumpen aller erdenklichen Emotionen. Er macht alles platt, was bisher noch positiv in mir gedacht hat und sät seine Zweifel in jeder meiner Gehirnwindungen.
Diagnose: Kulturschock
Und dann erwische ich mich bei Gedanken wie: Ich will hier weg. Ich gehöre hier nicht hin. Die wollen mich hier nicht haben. Ich werde nie dazu gehören. Und ja, ich weiß, dass all diese Gedanken nicht mit dem Passierten zusammenhängen. Aber ich fühle mich trotzdem mies.
Die Diagnose: Kulturschock. Nachdem ich insgesamt schon sechs Monate in diesem Land verbracht hatte, nahm ich an, immun zu sein. Und tatsächlich ist es nicht das ungewohnte Verhalten der Finnen oder die Tatsache, dass man hier Milch zum Mittagessen trinken kann. Es sind schlicht und einfach enttäuschte Erwartungen. Bei all diesen Gefühlen geht es nur zu vielleicht 10 Prozent wirklich darum, dass ich gerne einen Grafikdesignkurs belegt hätte, denn mir ist klar, dass es andere Wege geben wird irgendwo im Leben. Die restlichen 90 Prozent kommen durch unerfüllte Erwartungen.
Ich hatte erwartet, von der Universität als neues Mitglied der Unigemeinschaft begrüßt zu werden. Begrüßt wurde ich zusammen mit 200 Austauschstudenten, deren aktuelle Lebenssituation nur bedingt mit meiner vergleichbar ist. Das macht sich in der Relevanz der Informationen der Einführungswoche bemerkbar. Den Weg zur finnischen Studentenorganisation, die im Unialltag in Finnland eine tragende soziale Rolle spielt, musste ich mir selbst suchen, indem ich stundenlang die finnische Webseite der Uni durchsuchte. Denn die Uni erwartet scheinbar von internationalen Studierenden nicht, sich in den kommenden zwei Jahren in das Uniumfeld integrieren zu wollen.
Ich hatte auch erwartet, Information zu meinem Studiengang zu bekommen und meine neuen Kommilitonen kennenzulernen, mich mit den Leuten austauschen zu können, mit denen ich die kommenden zwei Jahre studieren werde. Doch gefunden habe ich in der riesigen Gruppe internationaler Studierender bisher niemanden, der meinen Studiengang studiert. Denn die erste und einzige Infoveranstaltung zu meinem Studiengang findet erst eine Woche später statt und auch erst dann bekomme ich nähere Infos zu Kursen, Inhalten, Studienorganisation usw.
Unerfüllte Erwartungen
Ich hatte es mir einfach anders vorgestellt. Ich hatte es mir so vorgestellt, wie ich es machen würde. Aber es wird hier eben anders gemacht.
Und was tut man in so einer Situation? Nun, bei Bedarf sollte man sich erst einmal heftig ausheulen, dann könnte man zum Beispiel mit einer vertrauten Person reden oder telefonieren und unsortiert all seinen Frust aussprechen. Im nächsten Schritt könnte man sich dann hinsetzen, den Frust logisch sortieren und einen selbstreflektiven Text für seinen Blog (oder sein Tagebuch) schreiben. Dann könnte man sich zum Beispiel seine Laufschuhe anziehen und einen Waldspaziergang machen, von dem man zwar immer noch frustriert, aber entspannter und mit der Gewissheit, dass wenigstens die Natur hier verdammt nochmal schön ist, zurückkommt. Und dann nimmt man sich vor eine Nacht darüber zu schlafen. Und dann wird man schon sehen.