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Singen, fotografieren, Filme schauen Mein Unialltag in Istanbul


Ich habe euch erzählt, warum ich die Türkei liebe und dass die Menschen hier außerordentlich hilfsbereit sind. Ich habe vom Essen geschwärmt und meinen Umzug von Europa nach Asien skizziert. Ich bin allerdings in erster Linie für mein Studium nach Istanbul gekommen. Deshalb möchte ich euch heute meine Universität ein wenig vorstellen  – und die Menschen, die zu ihr gehören.

In Gießen studiere ich seit drei Jahren Förderschullehramt mit den Förderschwerpunkten Lernen und emotional-soziale Entwicklung, dazu das Unterrichtsfach Sport. Weil es in meinem Alter nicht schon schwer genug ist, die Leichtathletik-Prüfung zu bestehen und Fußballspielen zu lernen (wie gut, dass das entsprechende Seminar dank Pandemie ausschließlich online abgehalten wurde!), habe ich nach einem Jahr auch noch das Zusatzfach Ethik gewählt. So wurde ich schließlich auf das Projekt IMPACCT (International Mobility with Partners Abroad for Culturally Competent Teachers) aufmerksam, das mir den aktuellen Auslandsaufenthalt ermöglicht. (Vielen Dank an dieser Stelle!)

Weil ich mittlerweile in Sport bereits meine mündliche „Wahlfachprüfung“ bestanden habe – das ist sozusagen der erste Schritt zum Staatsexamen – und im Fach Ethik die letzte Klausur geschrieben ist, kann ich an der Marmara Üniversitesi offen gesagt belegen, was ich möchte. Das International Office hier hat mir vor meiner Ankunft geschrieben, dass ich insgesamt bis zu 34 ECTS in verschiedenen Fachbereichen belegen dürfe. Das habe ich wörtlich genommen und mich für eine bunte Mischung entschieden: Chorleitung, Reportage-Fotografie, Soziologie des Kinos, Soziologische Aspekte von Religion, Porträtfotografie, den Sprachkurs „Türkisch für Anfänger“ und Filmmusik. Das ist zwar nicht das Programm, was zunächst auf meinem Learning Agreement stand und das von allen Austauschstudierende vor der Ausreise ausgefüllt werden muss. Doch ich möchte euch an dieser Stelle nicht langweilen. Nur so viel: ein Auslandssemester gelingt meiner Meinung nach am besten, wenn die akademischen Erwartungen in Grenzen gehalten werden und der Flexibilitätsgrad auf Seiten der Studierenden besonders hoch bleibt – nicht nur im Hinblick auf die Lage der Nation oder jene der Pandemie.

Ein Auslandssemester zu machen heißt auch, im Chaos die eigene perfekte Lösung finden

Wie ich nämlich in Istanbul angekommen schrittweise herausfand, werden gar nicht immer alle Kurse angeboten, die ich mir vorher aus einem Dokument von der Uni-Homepage herausgesucht hatte. Und dann ist da ja auch noch die Sache mit der Landessprache. Zwar habe ich als Kind während zahlreicher Urlaube in der Türkei zählen gelernt und wusste auch um die gängigen Begrüßungs- und Verabschiedungsformeln, aber ich kann sicher nicht einem Seminar über Fachbegriffe des Filmschnitts oder der Historie des Islams auf Türkisch folgen. Da muss ich passen. Manche Professoren haben auch gar nicht erst auf meine Mails geantwortet, wenn ich wissen wollte, ob vielleicht doch das ein oder andere Seminar auf Englisch abgehalten wird. Meinem digitalen Stundenplan konnte ich zudem nicht immer entnehmen, ob ein Onlinekurs über das Universitätssystem UES stattfindet, oder ob ich mich besser auf die Suche nach einer WhatsApp-Gruppe machen sollte, um einen Zoom-Link zur Veranstaltung geschickt zu bekommen.

Ganz ehrlich: die ersten beiden Wochen waren sehr chaotisch! Aber das habe ich euch schon in anderen Beiträgen von mir erzählt und mittlerweile habe ich meine eigene Lösung gefunden, die mir sehr gut gefällt.

Fotografie, Gesang, Film – ein Überblick über meine Kurse

Dienstags bekomme ich von meinem Professor Oktay Çolak einen Zoom-Link geschickt, um am Kurs „Fotoröportaj I“ teilnehmen zu können. Denn er selbst wohnt aktuell in London und kann uns deshalb nur digital unterrichten. Oktay war so nett, im Anschluss an den eigentlichen Kurs noch eine Sondereinheit für internationale Studierende anzuschließen. Das tut er vermutlich unentgeltlich – und sehr engagiert! Wir haben jede Woche ein anderes Thema, z.B. Stuhl, Porträt, Kontrast oder aktuell: Brücke. Dazu bereitet jede von uns vier Austauschstudentinnen zehn eigene Fotos vor, die während der Sitzung vorzustellen sind. Am besten erzählen wir mit den Bildern auch eine kleine Geschichte, denn schließlich lautet das Leitthema der Veranstaltung „Reportage“. So kommt es, dass ich hier noch mehr als sonst fotografiere, mir aber auch mehr Gedanken darüber mache, was ich mithilfe meiner Bilder erzählen möchte. Zusätzlich möchte Oktay, dass wir ein Foto zu dem entsprechenden Thema aus dem Internet raussuchen und ihm erklären, wieso wir es mögen. Das wiederum hilft mir, meine eigene Wahrnehmung von Kunst und Ästhetik zu verbessern. Ihr merkt es schon: dieser Kurs gefällt mir besonders gut!

Nachmittags habe ich – leider ebenfalls online – einen Sprachkurs. Von diesem hatte ich ehrlich gesagt mehr erwartet. Ich hatte so sehr auf Präsenzunterricht gehofft und zudem bin ich auch ein etwas altmodischer Mensch und arbeite gerne mit Papier. Screenshots von Zoom-Meetings sind nicht meine favorisierte Art, um Unterrichtsinhalte zu Hause zu wiederholen. Lieber schaue ich mir da doch ein Buch mit Bildern an und versuche so, einige Vokabeln zu lernen. Oder ich zwinge mich beim nächsten Einkauf, so zu tun als könne ich kein Englisch sprechen, damit ich einige türkische Begriffe zum Einsatz bringen kann.

Mittwoch ist mein Lieblingstag: Präsenzunterricht an der Marmara

Der Mittwoch ist – wie ihr vielleicht meinem Instagram-Account bereits entnommen habt – mein Lieblingstag, denn ich verbringe ihn konsequent von morgens bis abends auf dem Göztepe Campus der Marmara Üniversitesi. Um 10.30 Uhr beginnt der Spaß mit dem Kurs „Cinema and Society“ der Soziologischen Fakultät. In meinem ersten Studium habe ich schon vieles über Filmwissenschaften erfahren und schlussendlich sogar eine Diplomarbeit über Stummfilme geschrieben. Ich erwähnte bereits, etwas altmodisch zu sein. Am 23. November schreiben wir hier ein sogenanntes „midterm exam“, das laut Professorenaussage „easy“ werden wird. Aktuell schauen wir Filmausschnitte von Regisseuren wie Sergei Eisenstein oder Roberto Rossellini. Auch wenn die Unterrichtssprache im Allgemeinen Englisch ist (denn in der Soziologie und Politologie ist das an der Marmara Uni offensichtlich Standard) und den Studierenden nur punktuell zusätzlich Erklärungen auf Türkisch angeboten werden, verwendet der Professor türkische Vortragsfolien. Mein Gehirn ist deshalb während der zwei Zeitstunden, die das Seminar umfasst, in Höchstform! Ich versuche nämlich vereinzelte Begriffe aus der Präsentation simultan von Türkisch auf Deutsch zu übersetzen (Props gehen an dieser Stelle raus an Google Translate!), während ich den Sprechtext des Professors auf Englisch in mein Heft notiere. (Ja, ich benutze tatsächlich ein Heft und kein Tablet oder was auch immer!) Manche Filmsequenzen werden zu allem „Überfluss“ in italienischer Sprache untertitelt. Da ich zwei Semester in Mailand studiert habe, wird es an dieser Stelle besonders illuster. Um 12.30 Uhr rauscht mein Kopf und ich setze mich meistens mit meiner Freundin Hania auf einen Kaffee in die Sonne oder in eines der zahlreichen Cafés, die der Campus ebenso zu bieten hat.

Anschließend mache ich mich bereit für neue Überraschungen: Mein Musikprofessor Bülent Halvaşi erwartet mich generell im Außenbereich der Cafeteria der Musikalischen Fakultät, wo er mit einigen Kolleg*innen zusammensitzt. Ich weiß nie genau, was ab diesem Zeitpunkt geschehen wird und wie viel Zeit ich für das Abenteuer „Bülent“ einplanen sollte. Sicher ist nur eines: es wird unterhaltsam. Beim letzten Mal hat mir Bülent beispielsweise die Erasmus- Koordinatorin des Fachbereichs für Musik vorgestellt, die nun plant, mit meiner Hilfe eine Kooperation zwischen den Universitäten in Istanbul und Gießen aufzubauen. Manchmal erzählt mir Bülent, was er freitags im offiziellen „Koro 1“-Seminar online unterrichtet hat. Für dieses bin ich nämlich angemeldet. Weil es jedoch auf Türkisch stattfindet, treffe ich mich einmal pro Woche für eine private Audienz mit meinem Professor. Vor zwei Wochen haben wir „O sole mio“ von den „drei Tenören“ einstudiert und einen Ausschnitt davon auf YouTube gepostet. Diese Woche habe ich zum ersten Mal zwei türkische Volkslieder gesungen, was mir aus dem Stand erstaunlich gut gelungen ist. Bülents Kollege Ismet Arici hat mir anschließend das Tonstudio des Instituts gezeigt. Dort sprang mein Herz höher, denn wenn ich eine Sache für meinen Aufenthalt in Istanbul geplant habe, dann ist es, einen Song aufzunehmen! Manchmal muss ich mich hier tatsächlich fragen, ob ich noch in der Realität unterwegs bin, weil so viele wunderbare Dinge geschehen, die ich mir schöner nicht hätte erträumen können.

Abends gehe ich gerne noch in die Bibliothek, um an einer meiner zahlreichen Hausarbeiten weiter zuschreiben, die ich der Gießener Uni bislang noch schuldig geblieben bin. Habe ich in den ersten Wochen unnötig viel Geld ausgegeben, um in Cafés zu schreiben, bin ich froh, dass mir mein Kommilitone Ibrahim mittlerweile gezeigt hat, dass die Bibliothek hier ein sehr gemütlicher Ort ist, an dem es sich gut arbeiten lässt.

Donnerstags treffe ich  mich wieder mit Oktay für den zweiten Fotokurs. Der Titel lautet „Gün Işığında Portre“ und bedeutet so viel wie „Porträtfotografie bei Tageslicht“. Am Seminar nehmen vier türkische und zwei internationale Studierende teil, weshalb Oktay sich die Mühe macht, bilingual zu unterrichten. In dieser Woche sollten wir eine Art Projekt vorstellen, das wir bis zu den Midterm Exams erarbeiten wollen. Es soll im weitesten Sinne um Porträts gehen. Dabei bleibt es uns überlassen, ob wir mit natürlichem oder mit Studiolicht arbeiten wollen, ob experimentell, schwarzweiß oder in Farbe. Meine erste Idee war, den Campus mit all den Menschen, die mir hier langsam wichtig werden, fotografisch festzuhalten. Oktay hat Hania (sie kommt aus Polen und ist genau wie ich für ein Semester hier) und mir empfohlen, einen besonderen Fokus auf die Unterschiede zwischen unserer Heimat und der Türkei zu legen. Denn es könne doch interessant sein, unser Fotoprojekt später zu Hause zu präsentieren. Mittlerweile hat mein Professor allerdings gemerkt, dass ich gerne Selbstporträts inszeniere und mir vorgeschlagen, das Projekt „Sofia in Turkey“ zu nennen.

Abends habe ich noch einen Onlinekurs über das unieigene System. „Sociology of Religion“ unter Leitung von Professor Nuri Tinaz vermittelt beispielsweise die soziologische Sicht auf Marxismus und dessen Verbindung zu Religion. Mir fällt es hierbei ziemlich schwer, über zwei Stunden lang aufmerksam zuzuhören, da wir Studierenden während des Vortrags auf „stumm“ geschaltet sind und nur über die Chatfunktion auf Fragen des Professors reagieren können. Ich persönlich präferiere da doch das System, das ich aus Gießen kenne: melden und dann reinsprechen.

Zu meinem Kurs „Film Müziği“ am Freitag kann ich aktuell leider noch nichts sagen. Ich weiß erst seit wenigen Tagen, dass er abwechselnd online und in Präsenz in Türkischer Sprache stattfindet. Heute ist er kurzfristig ausgefallen. Mit Blick auf die Zwischenprüfung solle ich mir natürlich keine Sorgen machen, so der Professor Cem Ulu. Es handele sich um ein „take home exam“, das ich gerne auf Englisch bearbeiten könne.

Dafür hatte ich das Glück, über meinen liebsten Professor Bülent spontan an einer Chorprobe teilnehmen zu dürfen. Wir haben einen Marsch auf Atatürk mit dem Titel „Bir ses yükselir“ (dt. Eine Stimme erhebt sich) gesungen. Der Tag ist also wie so oft anders gelaufen als gedacht und dabei wieder einmal besonders schön geworden. Flexibilität ist eben alles!

Kommentare
  1. Dieter

    12. November 2021

    „Im Chaos die eigene perfekte Lösung finden“
    Das hast du früh geübt.

    1. Sophie

      17. November 2021

      🙂

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