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Von vergessenen Orten in und um Tallinn


Efeuüberwucherte Herrenhäuser, schaurige Katakomben, mythenumwobene Geisterstädte. Verlassene Gebäude üben eine seltsame Faszination auf Menschen aus. Den sogenannten Lost Places wohnt eine barocke Wehmütigkeit inne: Zurückgelassene Möbel, blätternde Tapeten und bröckelnder Stuck erzählen von einer opulenten Vergangenheit, die nicht mehr ist. Jetzt lässt sich nur noch spekulieren, welch Leben hier einst herrschte. Es gibt Menschen, die widmen ihre Freizeit ganz dem Erforschen dieser verwaisten Orte. Als Urban Explorer spüren sie Lost Places auf und verschaffen ihnen durch Ruinen-Fotografie neue Ewigkeit. Urban Explorer sind die Barock-Maler des 21. Jahrhunderts. Und Estland bietet ihnen erstklassige Motive.

Leer stehende Gebäude gibt es viele in Estland. Einige von ihnen sind aus Sowjetzeiten, andere noch älter. Klosterruinen, alte Landgüter, verlassene Bergarbeitersiedlungen, stillgelegte Fabriken, Kasernenanlagen, sogar eine einst streng geheime sowjetische U-Boot-Station. All diese Orte fristen ihr Dasein im Schatten des aufstrebenden modernen Estlands. Weil das Geld für Renovierungen fehlt, verfallen die alten Bauwerke Stück für Stück. Manche sind komplett in Vergessenheit geraten. Andere, wie das Patarei-Gefängnis, die Katakomben unter der Altstadt von Tallinn oder der Rummu-Steinbruch, in dessen türkisblauem Wasser man heute zwischen Ruinen schwimmen kann, werden als neue, hippe Touristenattraktionen gehandelt. Gemeinsam ist ihnen die Faszination der sichtbaren Vergänglichkeit.

Ausflug nach Paldiski

Am Wochenende besuchten wir Paldiski, einen kleinen Ort auf der Halbinsel Pakri, rund eine Zugstunde von Tallinn entfernt. Verlässt man die Ortschaft, findet man sich schnell wieder in einer malerischen Heidelandschaft, die gerade aus ihrem Winterschlaf erwacht. Wandertouren auf den Trampelpfaden entlang der Steilküste bieten herrliche Blicke auf das tiefblaue Meer, die Kalksteinklippen, junge Birkenwälder und Moore.

Steilküste und Meer
Wandern entlang der Steilküste

Doch die Idylle hat eine düstere Vergangenheit – auch wenn wortwörtlich Gras über die Sache gewachsen ist. Pakri war einst höchst geheimer Militärstützpunkt der Roten Armee. 1962 wurde hier ein sowjetisches Trainingszentrum für die Besatzungen nuklarbetriebener U-Boote errichtet. Zwei Nuklearreaktoren und bis zu 16.000 (!) stationierte Soldaten machten Pakri zu einem der wichtigsten Testanlagen der Sowjetunion. Paldiski war damals komplett von der Außenwelt abgeschottet; die Einwohner benötigten Sondergenehmigungen, um den Ort zu verlassen. Erst 1994 wurde Pakri wieder frei zugänglich gemacht. Heute zeugen die auf der ganzen Halbinsel verstreuten Baracken und grasüberwucherten Bunkerreste von der militärischen Vergangenheit.

Aber die Natur erobert sich friedlich zurück, was ihr gehört. Deutlich machen das Szenen wie diese: Inmitten zerfallener Bunkerruinen wächst ungerührt ein kleiner Baum vor sich hin. Man könnte meinen, er hätte den Bunker entzwei gesprengt.

Steinmauern
Natürliche Sprengkraft

An der Spitze der Halbinsel entdecken wir ein ähnlich skurriles Bild. In freier Flur steht einsam ein prachtvolles, aber verfallendes Herrenhaus. Vorsichtig luken wir hinein. Die Tapete blättert von den Wänden, alte Rohre ragen aus dem Boden, die Fenstergläser sind teils zerbrochen. Ein trostloser Anblick.

Altes Haus
Wer wohnt(e) hier?

Doch dann eine Überraschung. So leblos wie das Haus zunächst daherkommt, ist es nicht. Schaut man genau hin, ist hier längst neues Leben eingezogen. An der Fassade sind Ameisen fleißig am Werkeln. Am Fenster tanzt ein Schmetterlingspärchen. Im verwilderten Garten zwitschern Vögeln. Zwischen Bauschutter und Unkraut schauen vorsichtig ein paar Vergmissmeinnicht hervor. Verlassen war dieser Ort nie. Und vergessen werden zumindest wir ihn nicht.

Ameisen an der Fassade
Fleißige Bauarbeiter an der Fassade

Nachtpfauenauge
Ein Nachtpfauenauge ist in das leerstehende Gebäude eingezogen.

Kommentare
  1. Gaby

    25. Oktober 2017

    Hallo, ich kenne mich jetzt hier gar nicht so aus,
    aber ich fliege am Samstag nach Tallinn und möchte unbedingt nach
    Paldiski. Kann ich das alles alleine machen oder brauche ich einen Führer?
    Ich möchte gerne mit dem Zug dorthin. Finde ich mich als Fremde gut zurecht. Ich stelle mir vor, dass ich einfach zum Leuchtturm gehe.
    Würde das passen? Oder könnt Ihr mir Ratschläge geben.

    Danke Gaby

  2. Jana Scheurer

    22. Januar 2017

    Lieber Herr Reher, schön, dass Ihnen die Seite gefällt! Paldiski ist ein wirklich faszinierender Ort. Verstreut auf der ganzen Halbinsel befinden sich etliche Ruinen von Bunkern, Baracken und ehemaligen Militärgebäuden…vieles davon so verwittert und überwachsen, dass man die Augen offen halten muss, um diese sowjetischen Überbleibsel überhaupt zu finden. Die meisten Ruinen sind frei zugänglich. Die Sarkophage für die ehemaligen Trainingsreaktoren wurden allerdings durch eine hohe Mauer von der Außenwelt abgeschottet, sodass leider kein Blick auf sie möglich ist. Den Paldiski-Besuch kann ich dennoch allen Geschichtsinteressierten ans Herz legen. Beste Grüße!

  3. Markus Reher

    21. Januar 2017

    Liebe Jana Scheurer, schöne Site! – Paldiski… Sie waren da, ich nicht. Stehen die Sowjet-Ruinen noch? Kommt man an oder in die Sarkophage? Viele Fragen. Dank für Antworten! Markus Reher, 2017

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