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Meine Mission: der Schulklasse gerecht werden


Seit fast vier Monaten lebe ich in Istanbul. Glück und Intuition kamen hierbei zusammen, um diese einmalige Chance wahr werden zu lassen. Einer meiner ersten Gedanken bei der Bewerbung auf ein Stipendium für diesen Auslandsaufenthalt war, dass es für mich als künftige Lehrerin an einer Grund- oder Gesamtschule sicher von Vorteil wäre, ein bisschen Türkisch sprechen zu können.

Okay, Arabisch wäre vielleicht noch besser. Aber Türkisch doch immerhin ein Anfang. Meine Mission für Istanbul heißt deswegen: die türkische Sprache und Kultur –  eine andere Gesellschaft – kennenlernen. Wie gut ist mir das bislang gelungen? Sprache ist für mich eindeutig der Schlüssel zu einer neuen Kultur. Natürlich kann ich auch auf Englisch Essen bestellen. Und die Art der Ernährung, die Vielfalt der lokalen Küche, ist in meinem Verständnis ein nicht unwesentlicher Bestandteil einer Kultur. Dennoch freue ich mich, dass ich mittlerweile alles, was mir schmeckt, auf Türkisch bestellen kann und dabei gelegentlich sogar für meine Aussprache gelobt werde. Ich habe mir im Netzwerk Geflüchteter in Dortmund Anregungen geholt, um dem Kulturbegriff ein wenig intensiver auf die Spur zu kommen. In einer „Lebensgeschichte“ heißt es auf dieser Internetseite beispielsweise, dass neben dem Essen auch die Mentalität eines Volks, Gewohnheiten, die Geschichte, die Sprache, gemeinsame Traditionen, Werte, Normen, Musik, Religion, die Art, sich zu begrüßen, das Ausmaß öffentlichen Körperkontakts, Literatur, Philosophie und Kleidung unter den kulturellen Aspekt einer Gesellschaft fallen (es ist eine individuelle Perspektive; dies zur Erklärung nur am Rande).

Ich werde in diesem Beitrag versuchen, meine persönliche Wahrnehmung der türkischen Kultur zu skizzieren – so wie ich sie in den letzten Monaten erfahren habe. Was fällt mir besonders auf? Wo sehe ich die größten Unterschiede zu Deutschland oder sagen wir Hessen? Was schätze ich hier gegenüber meiner Heimat? Gibt es Dinge, dir mir in Istanbul besonders fehlen? Sicher werde ich nicht auf alle Aspekte eingehen können. Mache Themen bergen zudem Glatteisgefahr, weshalb ich sie bewusst ausklammern oder kurz halten werde.

„Der Vater der Türken“: Mustafa Kemal Pascha (Atatürk)

Um eine Sache jedoch kommen wir hier nicht herum: den massiven Personenkult um den ersten Präsidenten des Landes und Gründer der Republik Mustafa Kemal Pascha, später Kemal Atatürk. Was so viel heißt wie „Vater der Türken“. Seine Anhänger*innen sagen Atatürk nach, er habe eine westliche Lebensart und zudem das aufklärerische politische Denken in der Türkei weit vorangetrieben. Folglich wird er als der „Gründer der modernen Türkei“ angesehen und für seine Errungenschaften stark verehrt. In Deutschland wäre ein solcher Personenkult nach unserer Weltkriegsgeschichte meiner Meinung nach nicht vorstellbar. Besonders zum Tag der Republik Ende Oktober war die nach wie vor andauernde Verehrung Atatürks unübersehbar. Überall hingen rote Flaggen, auch solche mit dem Gesicht von Atatürk. Es gab mehrere große Paraden und Kundgebungen in der Stadt. Für mich aus Deutschland, wo immer wieder diskutiert wird, ob es in Ordnung oder doch nationalistisch ist, eine deutsche Flagge im Schrebergarten aufzuhängen, erschien das dann doch etwas „too much“ zu sein. Wenn ich bedenke, dass der ehemalige Präsident für die Säkularisierung in der Türkei verantwortlich ist, mutet der Kommentar eines meiner Professoren dann doch etwas „lustig“ an: die Verehrung von Kemal Atatürk scheint hier für viele Menschen fast schon Ausmaße einer eigenen Religion anzunehmen. (Wenn ich mich mit diesem Satz mal nicht schon zu weit aus dem Fenster gelehnt habe…).

Bleiben wir beim Thema „starke“ Männer: Die Türkei ist keines der Länder, das für eine liberale LGBTQ-Politik bekannt ist. Zwar gilt die türkische Gesellschaft unter den islamischen Ländern als vergleichsweise tolerant. Homosexualität wird in der Öffentlichkeit jedoch kontrovers wahrgenommen. Umso interessanter finde ich, dass Männer hier untereinander meiner Wahrnehmung nach herzlicher miteinander umgehen als in Deutschland. Ja, auch unter meinen Freunden zu Hause sind Umarmungen mittlerweile üblicher, also noch vor zwanzig Jahren. Was mir in der Türkei allerdings ins Auge springt, sind ältere Männer, die Arm in Arm spazieren gehen. Das finde ich sehr rührend. Und dann gibt es hier auch noch Cafés, die allein von Männern frequentiert werden, um Tee (türkisch „Çay“) zu trinken und beispielsweise Backgammon zu spielen. Was hier genau passiert, kann ich als Frau selbstredend nicht wissen. Solche Cafés existieren auch in Deutschland. Dort sind sie mir jedoch noch nicht aufgefallen.

„Sophia, where are you?“: Einblicke in das Macho-Klischee

„Der türkische Mann als solcher“ betont stereotyp formuliert, gilt in Deutschland eher als „Macho“, also als ein Mann, der ganz anders als ein „Softie“ seine Männlichkeit immer wieder unter Beweis stellen muss. Dieses Klischee ist mir persönlich in den vergangenen Monaten mehr als einmal begegnet. Angefangen bei Eifersuchtsdramen, wenn ich in einem Telefonat andere Männernamen erwähnte, über mehrfache Anrufe am Tag („Sophia, where are you?“; „Canım (dt. meine Seele), I want to see you!“) bis hin zu einem gequälten Gesichtsausdruck, wenn ich das gemeinsame Essen bezahlte. Nur als die Lira im Dezember richtig krass in die Knie gezwungen wurde, ließ es sich dulden, dass ich ausnahmsweise die Rechnung übernahm. Ich weiß, ich sollte weniger Vorurteile verbreiten. Das ist schließlich auch ein Grund für das mehrtägige interkulturelle Training, das ich im Zuge des IMPACCT-Projekts frequentieren durfte, aber das Wort „Stereotyp“ existiert eben nicht grundlos. Die türkischen Männer, die ich bislang kennengelernt habe, waren sehr darauf bedacht, ihre Männlichkeit zu betonen, kehrten bei jeder Gelegenheit ihren Beschützerinstinkt („You shouldn´  t walk home on your own“; „I pick you up from the station“) raus und fühlten sich enorm in ihrer Ehre gekränkt, wenn ich es wagte, ihre extrem dreckigen Männer-WG-Zimmer mit einem Prinzessinnen-Nasenrümpfen zu kommentieren. Mir ist bewusst, dass ich nicht all meine Gefühle öffentlich zeigen sollte, aber manches war denn doch unter meiner Würde. Zu oft hatte ich das Gefühl, dass die Männer, mit denen ich gelegentlich unterwegs war, nach außen hin vorgaben, mehr zu sein und mehr zu haben, als es dann tatsächlich der Realität entsprach. Wieso mir das allerdings so vorkam, muss an anderer Stelle tiefer analysiert werden.

Was mir hingegen richtig gut gefällt, sind gewisse Floskeln, die zum Erhalt der Höflichkeit im Alltag gebraucht werden. Ganz vorne der Satz „kolay gelsin„, den wir hier beim Verlassen des Supermarkts gebrauchen. Er soll ausdrücken, dass die Arbeit der Person an der Kasse möglichst leicht gelingen möge. Diese entgegnet daraufhin „sağol“ (dt. Danke). Und dann sage ich zum Beispiel noch „iyi akşamlar“ (dt. Guten Abend) und bekomme auch ein solches zurück.

Witzig finde ich wie oft „Afiyet olsun“ (dt. Guten Appetit) gesagt wird. Nämlich nicht nur, wenn die Speisen an den Tisch gebracht werden, sondern auch, wenn der Tisch nach dem Essen wieder abgeräumt wird oder auch beim Bezahlen der Rechnung. In einem meiner Stammlokale weiß der Kassierer um mein Amüsement und sagt „Afiyet olsun“ meist noch ein paar Mal öfter als gewöhnlich. Irgendwann sage ich es dann nämlich auch und fange an zu lachen.

Überhaupt habe ich hier das Gefühl, dass mir große Wertschätzung entgegengebracht wird, wenn auch nur ein Funke Bemühen um die Anwendung der türkischen Sprache erkennbar wird. Das kann zwar auch schnell dazu führen, dass mein Gegenüber annimmt, ich verstehe alles und deshalb fröhlich auf mich einplaudert. Mindestens aber merke ich eine gewisse Achtung, weil ich meinen Respekt gegenüber der mir immer vertrauter werdenden Kultur zeige.

Das Gebet des Muezzin: fünf Mal am Tag höre ich es ertönen

Neben der Staatsführung, den von mir beobachteten Geschlechterklischees und den sprachlichen Besonderheiten nimmt die Religion eine wichtige Rolle im türkischen Leben ein. Der größte Teil der türkischen Bevölkerung zählt zu den Muslimen. Der Einfluss konservativer Muslime hat dabei seit den 1970er-Jahren zugenommen und mittlerweile tragen auch wieder mehr Frauen das islamische Kopftuch. Fünfmal am Tag höre ich den Muezzin (dt. Ausrufer) sein Gebet durch die Stadt rufen und liebe es. Habe ich als Kind im Familienurlaub in Kuşadası gerne „der Mann ist mir laut“ zu sagen gepflegt, überkommt mich nun jedes Mal ein heiliges Gefühl, wenn ich beispielsweise in Karaköy am Wasser stehe und der Gesang mehrere Muezzine aus verschiedenen Moscheen durch mich hindurch weht.

Zu den Themen Philosophie und Literatur vermag ich an dieser Stelle nichts zu sagen, da ich mich diesbezüglich noch nicht mit den türkischen Einflüssen beschäftigt habe. In puncto Musik beobachte ich einen starken Hang zur Melancholie. Überhaupt kommt mir die Bevölkerung sicher auch bedingt durch Inflation und Politik, vergleichsweise schwermütig vor. Wunderbar hingegen finde ich die zahlreichen spontanen Straßenkonzerte, die ich hier miterleben darf. Grundsätzlich bleiben auch viele Passant*innen stehen, wodurch schnell gute Stimmung entsteht.

Bezüglich der Kleidung beobachte ich ein solides Understatement. Mit meinen Glitzer-Doc Martens falle ich doch sehr auf. Die meisten Menschen tragen schwarz oder dunkelblau. Berlin ist auf jeden Fall sehr viel hipper als Istanbul, was Mode anbelangt. Seltsam, dass ich dennoch viele lohnenswerte Secondhand Shops entdecke, wunderschönen Schmuck (ich erwähnte ihn zum Beispiel in meinem Blog über die finanzielle Lage in Istanbul) und stylishe Taschen. Vielleicht werden die meisten Sachen von Tourist*innen gekauft?

Zurück zur Einleitung: Gibt es Dinge, dir mir in Istanbul besonders fehlen? Meine beiden Söhne! Manchmal Dinkelspaghetti. Aber die habe ich mir an Weihnachten zu Hause in den Koffer gepackt. Sonst fällt mir augenblicklich nichts ein. Der tägliche Blick aufs Meer wiegt gewisse Entsagungen allemal auf.

So weit zum Thema türkische Kultur und meiner individuellen Wahrnehmung von dieser. Frage: Wie genau möchte ich meiner Schulklasse gerecht werden? Was bedeutet das denn im Idealfall für mich?

So ein Auslandsaufenthalt öffnet dir im besten Fall die Augen. Für deine eigene Engstirnigkeit, die Grenzen deines persönlichen Horizonts und deiner ach so geliebten Komfortzone. Und das ist toll. Denn dann setzt hoffentlich irgendwann auch die Phase ein, in der du darüber nachdenkst, wie es für ein Kind sein muss, zwischen zwei sehr unterschiedlichen Kulturen aufzuwachsen. Zu Hause trägt die Mutter vielleicht das islamische Kopftuch, Schweinefleisch kommt nicht auf den Tisch, im Idealfall wird fünfmal am Tag gebetet und einmal im Jahr kommt der Fastenmonat Ramadan, den deine Familie ernst nimmt. In der Schule aber essen manche deiner Klassenkamerad*innen Salamibrote, deine Lehrkräfte vergleichen dich unentwegt mit muttersprachlich aufwachsenden „deutschen“ Mitschüler*innen, ärgern sich darüber, dass deine Mutter nicht zum Elternabend gekommen ist (weil sie die Einladung vielleicht nicht verstanden hat) und erwarten, dass du nach den Weihnachtsferien vom Fest der Liebe erzählst, wie es in deiner Familie gefeiert wird. Spoiler alert: Weihnachten ist ein christliches Fest.

Als Lehrerin möchte ich gerne dazu beitragen, dass sich Kinder verschiedener Kulturen einander annähern und lernen, sich über ihre verschiedenen Sichtweisen auf die Welt zu verständigen. Niemand sollte von einer Gruppe ausgeschlossen werden, weil sich der Speiseplan, die religiösen Riten oder die Kleidung von denen der „Mehrheit“ unterscheiden. Kinder sollten meiner Meinung nach früh lernen, weniger über Unterschiede zu urteilen als sie einfach zu reflektieren und dann anzunehmen.

Zum Glück habe ich auch hier in Istanbul viele Menschen kennengelernt, die Lust haben, sich mit anderen Kulturen auseinanderzusetzen. Die müssen dann auch nicht zwingend ein Auslandssemester absolvieren, um mit einer allgemein willkommenen Art auf ihre Schulklasse zugehen zu können. Manchen Mitmenschen würde ich es hingegen wünschen, einmal vollkommen „lost“ in einem fremden Land zurechtkommen zu müssen. Wenn ich bald als Lehrerin arbeiten werde, sind meine Ziele die folgenden:

Der Aspekt „Unterschiede als Bereicherung ansehen“ kann genauso auch auf die Arbeit mit Förderschulkindern angewandt werden, die vermutlich meine Klientel werden. Insgesamt sehe ich meine Zeit hier in Istanbul als einen gelungenen Startschuss an, um mit der türkischen Sprache ein wenig vertrauter zu werden. Es wird noch einige Sprachkurse brauchen, um mich flüssig unterhalten zu können. Zumindest habe ich einen grammatischen Überblick gewonnen und für eine erste Kontaktaufnahme ist mein Wissen ausreichend. Ich kann jetzt schon besser nachvollziehen, woher manche Grammatikschwierigkeiten rühren. Die Satzstruktur im Türkischen ist nämlich eine ganz andere als im Deutschen. Jedenfalls freue ich mich schon jetzt auf das erste lächelnde Gesicht, wenn ich ins Klassenzimmer komme und einfach mal Günaydın, statt „Guten Morgen“ rufe.

 

 

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