3. Februar 2016
Vorweg: Ich mache mir die Dinge gerne komplizierter als sie sein müssen. Es wäre so einfach gewesen, ein paar Euro mehr hinzublättern und dafür bequem mit dem Flugzeug nach Tallinn zu reisen. Kurz und schmerzlos. Aber ich entschied mich für die lange, qualvolle Variante: Eine 26-stündige Busfahrt von Berlin nach Tallinn.
Ich gebe zu, es war hauptsächlich der Preis, der mich in den Wahnsinn lockte. Nur 25 Euro für 1.530 Kilometer – das ist unschlagbar. Ein bisschen Schuld trägt aber auch die Abenteurerin in mir, die mich zur Busanreise nötigte. Busfahren ist anders als Fliegen.
Fliegen fühlt sich unwirklich an, Busfahren dagegen höchst real.
Während du hoch über den Wolken Zeit und Raum hinter dir lässt, bringt dich eine Busfahrt zurück auf den Boden der Tatsachen. Das beginnt schon vor der eigentlichen Abfahrt. Es mag absurd klingen, aber ich mag es, an den dreckigen, unübersichtlichen Busbahnhöfen Europas zu warten und die Menschen dort zu beobachten. Busbahnhöfe sind ein gnadenloser Spiegel der Gesellschaft. Hier trifft man auf alle: Von Geschäftsreisenden im Anzug, über sparsame Studierende, kofferbeladene Großfamilien und abenteuerlustige Auswanderer bis hin zu Obdachlosen, die sich in den Warteräumen aufwärmen. So unterschiedlich ihre Herkunft und Ziele sind, so eint all diese Menschen doch die Momenthaftigkeit des Ortes.
Aber es ist nicht nur das. Ich mag es, ein Gefühl für die zurückgelegte Entfernung zu bekommen. Die vorbeiziehende Landschaft, das Pausieren im Nirgendwo, der Wechsel der Vegetation, der Sprache der Straßenschilder und der Häuser am Straßenrand. Busfahren gibt dir eine realistische Vorstellung davon, was zwischen deiner alten und neuen Heimat liegt.
Soweit meine romantische Vorstellung des Busfahrens. Aber wie sah die Realität aus? Eine kleine Chronologie: Bereits am Berliner Busbahnhof füllt sich mein doppelstöckiger Bus mit einer bemerkenswerten Zahl an Passagieren. Trotzdem habe ich noch zwei Sitzplätze für mich. Jackpot, denke ich, und lache mir heimlich ins Fäustchen, während zwei Reihen weiter vorne Rucksäcke zur Seite geschoben werden müssen, um Platz für den Sitznachbarn zu schaffen. Im Bus wird jeder Mensch zum Egomanen. Ich mache mich also breit, studiere das Bord-Menü und spiele mit dem Touchscreen vor mir herum. Auch das buseigene W-Lan funktioniert. Ich bin im Siebten Himmel.
In Warschau passiert das, was passieren musste: Für jeden aussteigenden Fahrgast kommen mindestens zwei neue hinzu. Kurz: Ich bekomme einen Sitznachbarn. Hektisch verstaue ich meine sieben (oder waren es nicht eher tausend?) Sachen im Fußraum und versuche es mir auf den verbliebenen Quadratmillimetern so bequem wie möglich zu machen. Ein vergebliches Unterfangen. Zu allem Übel versagt nun auch noch das W-Lan. Hilferufe in die Außenwelt sind ab jetzt unmöglich. Ich bin in der Hölle.
Im Laufe der Nacht siegt dann doch die Müdigkeit über die Verzweiflung. Während wir über dunkle polnische Autobahnen tuckern, irgendwann unbemerkt die Grenze zu Litauen überqueren, fallen mir die Augen zu. Ich nicke ein – und werde prompt wieder hochgerissen, als ein Schlagloch meinen Kopf mit der Fensterscheibe kollidieren lässt. So verbringe ich die Nacht in einem merkwürdigen Wach(alb-)traum.
Gegen 5 Uhr morgens räkelt sich mein Sitznachbar und beginnt seine Sachen zusammen zu kramen. Er verlässt den Bus bereits in Kaunas, Litauen. Ich jubiliere und feiere die neu gewonnene Beinfreiheit. Wenn man knappe 1,64 m misst, sind zwei Bussitze fast so gut wie ein Bett. Überwältigt von Glück und Müdigkeit verschlafe ich die Morgendämmerung ebenso wie die Grenzüberfahrt nach Lettland und wache kurz vor Riga auf. Oh Wunder: Wir sind tatsächlich eine halbe Stunde früher als geplant in der lettischen Hauptstadt! Zeit für einen Kaffee. Meine Lebensgeister vertreiben die Gespenster der Nacht.
Gestärkt gehe ich die letzte Etappe an: Vier Stunden Busfahrt von Riga nach Tallinn. Der Bus ist angenehm leer. Doch an Schlaf ist nun nicht mehr zu denken. Das Ziel ist zum Greifen nah! Während der Nieselschneeregen auf das Dach des Busses prasselt, lasse ich die Landschaft an mir vorbeiziehen. Wald, Wald und noch mehr Wald. Ich sehe Estland vor lauter Bäumen nicht. Dann lichtet sich der Forst plötzlich und wie aus dem Nichts taucht auf der linken Seite die Küste auf. Ich bin nun hellwach und sauge alle neuen Eindrücke auf. Der Busfahrer macht ein paar unbedeutende Ansagen – ausschließlich auf Russisch und Polnisch (was ich glücklicherweise verstehe). In der Reihe hinter mir unterhalten sich zwei Polen über die Aussprache von deutschen und estnischen Umlauten. Mein Linguistenherz pocht ganz laut.
Kurze Zeit später wechseln Häuser die Bäume ab. Es wird urbaner. Wolkenkratzer zeichnen sich am Horizont ab. Das kann nur Tallinn sein! Wir fahren in den Bussijaam ein, ich hüpfe beschwingt aus dem Bus, atme meinen ersten Atemzug Tallinner Luft ein – ich bin am Ziel.