29. Februar 2016
Flaggen, Fusel, Freudentaumel. Die letzten Tage waren in blau-schwarz-weiß getaucht. Am 24. Februar feierte Estland Geburtstag. 98 Jahre Unabhängigkeit. Moment. 98 Jahre? War da nicht etwas? Beispielsweise eine nicht unbedeutende russische Besatzungszeit?
Richtig und gleichzeitig falsch. Zwar wurde Estland jahrzehntelang von der Sowjetunion dominiert. 1990 erklärte der Oberste Rat die sowjetische Annexion aber als völkerrechtlich illegal und somit nichtig. Offiziell hat Estland also seine Souveränität seit der offiziellen Unabhängigkeitserklärung im Jahr 1918 nie verloren.
Schlaflos durch die Nacht
Estland blickt auf eine ebenso bewegte wie leidvolle Besatzungsgeschichte zurück (Russen, Deutsche, Dänen, Schweden und Polen gaben sich hier die Klinke in die Hand) und so muss man vielleicht auch den – aus deutscher Sicht – übermäßigen Patriotismus verstehen. In Deutschland geht der Nationalfeiertag ja mehr oder weniger an einem vorbei. In Estland ist das anders. Der estnische Unabhängigkeitstag wird mit großem Brimborium zelebriert. Schon am Tag zuvor zeichneten sich die ersten Vorboten ab. Uni-Kurse fielen aus, Büros blieben geschlossen, selbst die Bibliothek setzte die fleißigen Studierenden schon ab 14 Uhr vor die Tür. Etwas lag in der Luft.
Gegen Abend füllten sich die Straßen von Tallinn merklich. Statt mich den feierwütigen Massen in der Altstadt anzuschließen, blieb ich an der Uni – aber nicht zum Lernen. In der Nacht vor dem estnischen Unabhängigkeitstag versammelt sich traditionell die Studierendenschaft und feiert in den Tag hinein. In den Räumlichkeiten der Baltic Film and Media School wurden estnische Filme gezeigt, es gab Musik, Brettspiele und ein Snack-Buffet, das sich die ganze Nacht über wie von Zauberhand auffüllte. Besonders beeindruckt mich die estnisch-finnisch-deutsche Produktion „Vehkleja“ (dt. Die Kinder des Fechters), ein Film über den estnischen Sportlehrer Endel Nelis, der in den 1950er Jahren einen Fechtclub an einer estnischen Schule ins Leben rief. Sehenswert!
Flaggen und Krambambula
Gegen 6 Uhr morgens – draußen war es noch stockfinster – wurden alle tapferen Nachteulen zusammengetrommelt. Der Rektor sprach ein paar Worte, die Vertreterin der Studierendenschaft ebenfalls. Dann wurde angestoßen. Mit heißen Krambambula. Einem verhängnisvollen Gemisch, das hauptsächlich aus verschiedenen Sorten Alkohol und Zucker besteht. Eine Art Glühwein mit zehnfachem Schuss. Um 6 Uhr morgens. Ein denkbar guter Start in den Tag.
Gestärkt mit Krambambula wagten wir uns in die Finsternis. Unser Ziel: Das estnische Parlament auf Toompea, dem Domberg zu Tallinn. Wir stapften durch Schnee und Dunkelheit. Blaue Studierende, schwarze Nächte, weißer Schnee. Vor dem Parlament (Riigikogu) wartete bereits ein Heer aus Flaggen, Kameras und Fähnchen schwingenden Frühaufstehern. Bibbernd reihten wir uns in die Massen ein. Mit Aufgang der Sonne wurde um 7:34 unter Jubeln die estnische Flagge auf dem „Langen Hermann“ gehisst. Flaggen wehten im Wind, die Nationalhymne wurde gespielt. Ich bekam das alles nur halb mit; meine Wahrnehmung war noch durch Schlafmangel und Krambambula getrübt. Zu allem Überdruss drohten meine Zehen einen grausamen Kältetod zu sterben.Warum hat Estland seine Unabhängigkeit eigentlich nicht in der warmen Jahreszeit errungen?
Nach Militärparade und abendlichem Feuerwerk hielt der estnische Staatspräsident Toomas Hendrik Ilves (dessen Eltern selbst Flüchtlingshintergrund haben) seine traditionelle Rede, in der er sich erstaunlich gegenwartsbezogen hilt und über Flüchtlinge, Vorurteile und Ängste der Bevölkerung sprach. Es ist zu hoffen, dass seinen Worten Gehör geschenkt wird: „Openness makes Estonia greater, pettiness makes it smaller.“
Geschichtsstunde: Estland
Estland war seit eh und je im Visier von Großmächten. Das kleine Land wurde abwechselnd von Dänen, Schweden, Russen, Polen und Deutschen belagert. Tatsächlich war Estland bis ins späte 19. Jahrhundert ziemlich deutsch geprägt. Das merkt man heute noch an zahlreichen deutschen Lehnwörtern in der estnischen Sprache (plats – Platz, arst– Arzt, mööbel – Möbel). Um die Jahrhundertwende herum erlebte Estland – wie der Rest Europas – eine starke nationale Bewegung, die in der Unabhängigkeitserklärung am 24. Februar 1918 gipfelte. Die Eigenständigkeit währte aber nicht lange. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Estland von Russland annektiert. Es folgten Jahrzehnte der Unterdrückung und Deportationen. Doch die Esten protestierten und brachten mit ihrer Singenden Revolution den friedlichen Wandel herbei. Anfang 1990 erklärte sich Estland wieder zur eigenständigen Republik.