25. Juli 2023
Zu gehen wenn’s am schönsten ist, ist tatsächlich ein guter Ratschlag. Damit der Abschied schwer fällt, muss schließlich vorher vieles richtig gelaufen sein. Hier ein Potpourri an Gedanken zu Auslandsabenteuern und Sprachenlernen, im kolumbianischen Deckmantel serviert.
Ich möchte diesen finalen Beitrag nutzen um dir zu erklären, wie du in deinem kolumbianischen Auslandsaufenthalt unter anderem mit Propellern, Quantensprüngen und Gonorrhea in Berührung kommen wirst. Es handelt von dem Sprachenlernen im Allgemeinen und von triftigen Gründen, warum Kolumbien und Bogotá im Spezifischen meiner Meinung nach die bestmögliche Destination für einen Auslandsaufenthalt sind. Wie ich in Bogotá gelebt habe, welche Dinge ich in Kolumbien erleben durfte und was ich wünschte, anders gemacht zu haben – viel Spaß mit den nächsten Zeilen! Postkarten aus Kolumbien sind jederzeit willkommen.
Ist Bogotá die richtige Entscheidung?
Die Frage kannst du dir natürlich nur selbst beantworten. Für mich war es das auf jeden Fall! Ich mag Bogotá wirklich gerne und finde, dass das Leben hier eine hohe Lebensqualität haben kann. Wenn dich aber viele Menschen eher nervös machen und du Übersichtlichkeit zu schätzen weißt, ist die Metropole wohl eher nichts für dich. Wie bereits im Beitrag zu Nachhaltigkeit erwähnt, geschieht der Nahverkehr ausschließlich auf den Straßen der Stadt und die Luftbelastung ist leider dementsprechend hoch. Nichtsdestotrotz ist die Entscheidung für Bogotá keine Entscheidung gegen die Natur! Bogotá ist relativ zentral im Landesinneren verortet, also ein idealer Ausgangspunkt für Reisen in jede Himmelsrichtung. Aber die ganz großen Ausfahrten sind gar nicht zwingend notwenig. Bogotá liegt im Tal einer Gebirgskette, es gibt Wanderwege aus beliebten Wohngegenden direkt in die unberührte Natur und in einem Radius von zwei Stunden Autofahrt wirst du dich vor lauter Grün kaum satt sehen können. In dem Beitrag zu meiner Gast-Universität, der Javeriana, habe ich bereits erwähnt, dass Bogotá auch viele der besten Universitäten Lateinamerikas vereint. Es gibt mit anderen Worten auch eine belebte Studi-Szene, inklusive Internationals. Wenn dir die Kontaktaufnahme zu neuen Leuten nicht so leicht von der Hand geht, kann ich Colivings* nur empfehlen. Dank meiner Freund*innen kenne ich inzwischen einige Colivings in Bogotá und mein zu Hause, Tabula Rasa, finde ich nach wie vor am besten. Du bist in einem schön eingerichteten Haus, in bester Lage und direkt Teil einer tollen Gemeinde. Lass das Tiktok über meine Wohnsituation auf dich wirken … und schon siehst du dich auch durch die Straßen Palermos schlendern. 🙂
* Colivings ist hier in Bogo´tá der Begriff für Wohngemeinschaften. Sie werden oftmals, aber bei Weitem nicht ausschließlich von Internationals benutzt. Anders als in Deutschland handelt es sich weniger um WG’s (in Wohnungen), sondern vielmehr um einzelne Häuser, die gemeinsam bewohnt werden. Die Vermieter*innen verwalten oftmals mehrere Häuser, sie wohnen also nicht direkt mit dir im selben Haus. Ich habe meine Vermieter vielleicht einmal im Monat gesehen, das heißt wir können einerseits wirklich entspannt leben und andererseits mit ihnen unkompliziert per Whatsapp anstehende Sachen kommunizieren. Seriöse Anbieter geben dir auch einen Mietvertrag. Wenn du wie ich denkst, dann möchtest du sicher mit möglichst vielen/ausschließlich mit Kolumbianer*innen zusammenleben um direkt tief in die Kultur einzutauchen. Viele Studierende aus Bogotá leben aber nach wie vor mit ihrer Familie und in Kolumbien sind die Arbeitstage häufig sehr lang, sprich die Arbeitenden sind früh aus dem Haus, spät zurück und suchen dann eher siesta statt fiesta. Einige meiner Freund*innen haben deshalb tatsächlich nochmals ihre Wohnsituation geändert. Natürlich gibt es immer Ausnahmen und Konstellationen, die super gut funktionieren können.
Was hat Kolumbien zu bieten?
So viel mehr, als in nur einem Semester zu erleben möglich wäre! Das Land ist mit seiner biologisch-geografischen sowie kulturell-historischen Vielfalt einfach der absolute Wahnsinn. Hast du allein die Früchte gesehen, die es in diesen Breitenkreisen so gibt? Ich könnte mir ehrlich gesagt kaum ein besseres Land für ein Auslandssemester vorstellen und bin inzwischen eher überrascht, warum nicht mehr Leute nach Kolumbien kommen. Die Sicherheitsbedenken sind nachvollziehbar und nicht komplett ungerechtfertigt – ich habe deshalb in diesem Beitrag versucht, dir ein besseres Gefühl für die Situation zu vermitteln. Tatsächlich werde ich in meinem Freundeskreis (nicht zu Unrecht) mit den meisten Papayas assoziiert. Mir ist aber während des gesamten Aufenthalts nichts widerfahren, mein System (und mein Glücksbringer) scheint also funktioniert zu haben. Mein Ko-Korrespondent Tim gibt dir hier 22 gute Gründe, warum du auch nach Kolumbien kommen solltest. Klick dich mal durch sein, Madleen’s oder mein Profil und sag mir, dass du keine Lust auf dieses Land bekommst. Schlicht unmöglich.
Was ich gern anders gemacht hätte
Diese Frage ist immer so eine Sache. Der Reiz des Lebens liegt schließlich auch darin, dass jede Situation in Raum und Zeit verankert und deshalb einzigartig ist. Wir können nicht einfach vor- oder zurückspulen und das macht es auch so besonders. Nichtsdestotrotz hätte ich mich rückblickend betrachtet gerne mehr um einen strukturierten Sprachkurs bemüht. Die Javeriana (im Gegensatz zu anderen Unis) bietet aktuell leider keine Spanisch-Sprachkurse für uns Internationals an. Nach anfänglichem Enthusiasmus ist die Suche nach Alternativen mit voller werdendem Termin- und Reisekalender ehrlicherweise etwas im Sande verlaufen. Sprachtandems sind eine super Gelegenheit, sowohl Kontakte mit Leuten von vor Ort zu knüpfen, als auch die Sprache sprechen zu üben. Auslandserfahrungen sind immer auch eine Chance für Neuversuche und Experimente! Niemand kennt dich (und deine Imperfektionen) zu Beginn und nichts muss von Dauer sein. Es ist auch nie zu spät um etwas anzufangen? Es sind nur noch Wochen bis zu deiner Abreise, aber du hast von diesem Tennisverein gehört? Nichts wie hin da. Der Haarschnitt, über den du schon ewig nachdenkst? Das Hobby, was du immer mal ausprobieren wolltest, aber nie die Zeit oder das Geld dafür hattest? Wann, wenn nicht im Auslandssemester 🙂
Hola, qué tal? Soy Julio, mucho gusto.
Wie ich es inzwischen so mit dem Spanisch halte? Muy bien! Wie hier beschrieben, ist an der Javeriana und vielen anderen kolumbianischen Universitäten – „nur“ ein Sprachniveau von B1, statt dem international etablierten B2, erforderlich. Ich konnte mich, gerade so noch rechtzeitig über die Ziellinie retten und die Sprachprüfung bestehen. Klingt etwas dramatisch, entspricht aber der Wahrheit. Mein Spanisch war zum Zeitpunkt der Abreise bestenfalls ein A2, und das an guten Tagen. Ich konnte keine drei Sätze aneinanderreihen. Inzwischen verstehe ich noch nicht alles, aber fühle mich in Gesprächen wohl und kann relativ problemlos meine Gedanken äußern. Je besser du die Sprache bereits zu Beginn deines Aufenthaltes sprichst, desto schneller wirst du dir natürlich einen Freundeskreis aufbauen und generell mehr mitbekommen können. Also schneller mehr erleben. Zu Beginn fühlen sich die Sprachdefizite immer wie ein unglaublicher Klotz am Bein an und es scheitert teilweise an den leichtesten Sätzen. Anders formuliert, eine exzellente Übung in Demut. Deine (ausbaufähigen) Sprachkenntnisse sollten dich aber keinesfalls davon abhalten, einen Auslandsaufenthalt anzugehen! Je niedriger du einsteigst, desto größer der zurückgelegte Quantensprung am Ende.
No hablo inglés. Und: Je mehr Frustration, desto besser.
Ich konnte an einem Punkt zu Beginn des Semesters die Kombination der erwartungsvollen Blicke, meiner Gedanken zum Thema und der Unfähigkeit, ebenjene auch nur halbwegs adäquat zu kommunizieren, nicht mehr ertragen und habe spontan einen überlangen Monolog auf Englisch gehalten. In der Universität kein Problem, außerhalb aber etwas schwieriger. Auch in der Hauptstadt Bogotá ist es nicht garantiert, dass die Kellner*innen Englisch sprechen können. Aber das ist auch gut so! Englisch kann schnell wie Stützräder wirken. Es hilft dir zwar, die Welt zu navigieren, handlungsfähig zu bleiben, voranzukommen. Aber es verlangsamt dich auch ungemein. Deshalb: Spring so oft in das kalte Wasser wie du kannst, gib deinem Spanisch eine Chance und bleib einfach dran – so plumb, repetitiv und simpel deine Sätze zu Beginn auch klingen mögen. Das Ziel ist nicht, die Sprache „perfekt“ zu sprechen. Deutsch ist meine Muttersprache und es steht außer Frage, dass meine Artikulation nicht allzeit perfekt ist. Außerdem nimmt der Spaß erst so richtig Fahrt auf, wenn du beginnst authentisch zu sprechen, also auch mit regionalem Slang zu hantieren. Das Ziel beim Spracherwerb ist vielmehr, sich verständigen zu können! Und dafür braucht es deutlich weniger Vokabular als gedacht, dann und wann eine Minimaldosis anderer Sprachen zur Unterstützung und eine ganze Menge guten Willen deinerseits.
Fortschritt statt Perfektion, Offenheit im Oberstübschen – und die Worte fließen nur so dahin. Zumindest bist du dann auf dem besten Weg. Der Schlüssel zum Erfolg liegt tatsächlich da, wo du nie nach ihm suchen würdest: in deiner anfänglichen Frustration. Die vielen Gedanken und Ideen auf der einen Seite und den anfangs sehr beschränkten Wortschatz auf der anderen Seite zu haben, ist dein Propeller. Je größer die Frustration, desto schneller lernst du die Sprache.
Geheimtipp: Nichts lässt Leute leichter über grammatische Fehler hinwegsehen als dein Lächeln. Kennst du die Szene in Madagascar, wenn ein Pinguin dem anderen zum „Lächeln und Winken“ rät? Für mich ist es im Ausland neben viel Augenkontakt vor allem Lächeln und aufmerksames Nicken.
Das kolumbianische Einmaleins
- Hola, qué más?: Wortwörtlich: „Hallo, was noch?“; gemeint ist aber: „Hallo, wie geht’s / was gibt es Neues?“
- Listo!: Genereller Ausdruck der Bestätigung, vergleichbar mit dem Spanischen „vale“
- Que chévere: Wie cool, wie schön, wie gut
- Qué chimba!: Sehr cool! genereller positiver Ausdruck, aber etwas enthusiastischer
- Qué gonorrea!: der Superlativ; Ausdruck großer Überraschung, sowhohl negativ als auch positiv
- Marica: Ein Freund/Freundin, ähnlich zu „whey“ im Mexikanischen oder „dude“ im Englischen; ABER (bisher) nur in Kolumbien angeeignet! in anderen Regionen Lateinamerikas nach wie vor als Beleidigung gegenüber Homosexuellen benutzt
- Veci: Kurzform von „vecino/vecina“ (Nachbar*in), gern von allen benutzt um förmliche Interaktionen, zum Beispiel im Supermarkt oder mit Unbekannten auf der Straße, aufzulockern
- Me regalas por fa: Ich hätte gern; „el regalo“ ist das Geschenk, es klingt für Leute außerhalb Kolumbiens deshalb so, als würdest du im Laden/Café/Restaurant permanent wollen, dass dir die Sachen geschenkt werden; es ist aber trotzdem die geläufige Ausdrucksart und entspricht andernorts „me das …“
- Qué pena!: Wie Schade (dass dir das passiert ist)! aber auch: Tut mir leid (dass ich zu spät bin)
- ¿Vamos por unas polas?: Wollen wir ein Bier trinken gehen? Pola = cerveza.
Schon mal gehört, dass das Verhältnis verbaler zu non-verbaler Kommunikation 10-90 sein soll? Näher an der Wissenschaft ist wohl eher die Ratio 55-38-7, sprich Körpersprache-Tonfall-gesprochene Worte. Selbst dieses Zahlenverhältnis ist schwer zu belegen und auf den Alltag zu übertragen. Egal wie du es aber drehst: die gesprochene Sprache ist nur ein Teil, und zwar ein sehr kleiner Teil, der gesamten Kommunikation. Das ist deine Chance! Lass deine Augenbrauen vor Erstaunen tanzen, dich in Ausdrucksstärke von Charlie Chaplin inspirieren und das Gesagte mit reichlich Gesten komplementieren. Wenn du eine neue Sprache lernst und sie dann auch noch in der Wildnis praktizierst, lernst du die Feinheiten der Körpersprache direkt mit. Zwei zum Aufwand von einem also. Beim Sprachenlernen gibt es nur Gewinner.
Ein weiterer, faszinierender Aspekt des Spanischlernens für mich: Es überlagert offenbar mein französisch! Ich dachte vorher, dass neue Sprachen zu lernen ein bisschen wie Freundschaften pflegen funktioniert. Neue Freund*innen kommen hinzu, alte bleiben unverändert bestehen, die Party wird schlicht größer. Das stimmt zwar prinzipiell auch, nichtsdestotrotz habe ich teilweise das (irrationale!) Gefühl, dass mein Zuwachs an Spanischkenntnissen mit proportionalem Verlust in Französischkenntnissen einhergeht. Ich habe bereits des Öfteren spanische Wörter in französischen Sätzen verwendet, ohne es selbst zu bemerken. Gehirnjogging pur und verblüffend bis schlicht spaßig für alle Beteiligten. Lass mich unbedingt wissen wie es dir damit ergeht/ ergangen ist, solltest du bereits ähnliche Erfahrungen gemacht haben!
Tranquilo. Das wird schon.
Und bitte, hab Geduld mit dir und deiner Fremdsprache. Teil des Menschseins ist laut Sozialpsychologie auch der Spotlight-Effekt. Demnach denken wir alle, von unserem sozialen Umfeld permanent beobachtet zu werden. Alle denken das aber über alle, jeder ist viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als tatsächlich deine missglückte Aussprache eines bestimmten Wortes oder deine, den roten Faden suchenden Blicke im Gespräch tatsächlich zu bemerken. Die Gedankenstütze hilft übrigens auch im Fitnessstudio oder beim Vortrag. Ein weiteres Antidot: Wie mit allen kognitiven Leistungen ist deine Sprachfähigkeit alles andere als statisch und dein Fortschritt nicht linear! Es gibt gute und weniger perfekte Momente. Situationen, wo dir der leichteste Satz einfach nicht über die Lippen kommen will. Das ist alles absolut normal und Teil der Lernkurve. Humor hilft immer.
Wenn du öfter Ja sagst, passiert mehr im Leben
Es heißt immer, dass wir an unseren Herausforderungen wachsen – ich bin in jedem Fall zunehmend der Überzeugung, dass mein Herz mit meinen Erfahrungen wächst. Ich habe hier in Kolumbien viele neue Freunde ins Herz geschlossen, empfinde ungemein viel Empathie für alle Kolumbianer*innen (und Bewohner:innen anderer lateinamerikanischer Länder mit ähnlichem Schicksal) und deren Ringen um mehr sozioökonomische Stabilität und soziale Gleichberechtigung, und weiß Natur und Kultur umso mehr zu schätzen, jetzt da ich sie einmal kennengelernt habe. Das vermeintlich schönste Paradox: Auslandserfahrungen lassen die Welt viel viel kleiner (weil konkreter), aber gleichzeitig auch so viel größer (weil nuancierter) erscheinen als ursprünglich für möglich gehalten. Meine anderen bisherigen Auslandserfahrungen nahmen tatsächlich einen sehr ähnlichen Verlauf. Ich habe Kolumbien jetzt in keiner Weise „verstanden“ oder abschließende Antworten gefunden. Kolumbien ist nicht abgehakt. Im Gegenteil, ich habe jetzt Hunderte Fragen mehr und möchte tiefer in die Materie einsteigen, mehr erfahren, mehr verstehen. Ins Ausland zu gehen ist gefährlich – es könnte dich dein Leben lang prägen.
Wenn du ein Frage hast oder irgend ein anderer Gedanke in deinem Kopf kreist – zögere bloß nicht, mich zu kontaktieren! Ich bin absolut nicht aus der Welt und wahrscheinlich am leichtesten über Instagram zu erreichen. Würde mich sehr freuen von dir zu hören! 🙂
ErlebeEs – am besten selbst! 🙂
– Julius