20. Mai 2016
Hinter uns lag eine kurze, aber erholsame Nacht auf See. Das dumpfe Dröhnen der Schiffsmotoren und die sanften Wellenbewegungen der Ostsee hatten uns rasch in Tiefschlaf versetzt. Während wir durchs Reich der Träume irrten, fuhr unser Boot unbeirrt fort gen Osten, dem Sonnenaufgang entgegen. Frühmorgens weckte uns russische Popmusik, die aus dem Kabinenradio dudelte. Ein Blick auf die Uhr verriet, dass wir schon bald in den Hafen einfahren sollten. Schlagartig wach liefen wir an Deck – und prallten fast gegen eine dichte Nebelwand. Nur das leichte Schwanken des Schiffes und die gerade noch erkennbaren Wellen am Rumpf der Fähre ließen erahnen, dass wir uns fortbewegten. Eine gefühlte Ewigkeit starrten wir in die Nebelsuppe, versuchten schemenhafte Schiffe und Gebäude zu erkennen. Dann plötzlich: Wie von Zauberhand lichtete sich der Nebel und gab den Blick frei auf die goldenen Kuppeln der Zarenstadt. Aus dem Nebel erhob sich Sankt Petersburg.
Morskoy Vokzal: Das Fährterminal in Sankt Petersburg
Lediglich eine grimmige Zollbeamtin trennte uns noch von Russland. Misstrauisch beäugte sie meinen Pass, glich mehrmals mein müdes Gesicht mit meiner biometrischen Fratze ab. Schließlich drückte sie den Stempel auf die allerletzte Seite meines Reisepasses, reichte mir meine Einreisedokumente und ließ mich gehen. Einen Schritt weiter stand ich zum ersten Mal in meinem Leben auf russischem Boden.
Empfang mit Pauken und Trompeten
Kaum hatten wir das Fährterminal verlassen, wurden wir schon von einem kleinen Blasorchester begrüßt. In der Stadt herrschte Feiertagsstimmung. Es war nicht nur der orthodoxe Ostersonntag, sondern dazu auch noch der 1. Mai – Tag der Arbeit. Zu unsern ersten Eindrücken der Stadt zählte daher die traditionelle Mai-Parade. Gewerkschaften, verschiedene politische Gruppen und Aktivisten marschierten durch die Straßen und verkündeten lauthals ihre Parolen. Die Zusammensetzung der Parade war dabei so absurd, dass wir uns mehrmals die Augen reiben musste: Putin-Fans und Neonazis liefen direkt vor Vertretern der Tierschutzpartei und LGBT-Aktivisten. Letztere, das muss man an dieser Stelle anfügen, wurden später am Tag festgenommen und mussten ihre Regenbogenflagge einrollen. Nicht Bunt, sondern Rot war die die dominiernde Farbe des Tages. Rote Fahnen, rote Flaggen, rote Ballons. Und immer wieder Hammer, Sichel und Stern. Die sowjetische Flagge entpuppte sich bei den Straßenhändlern als echter Verkaufsschlager. Es war ein skurriles Spektakel.
Zwischen Prachtboulevard und Plattenbau
Russland verstehen, Russland beschreiben, Sankt Petersburg in Worte fassen…ist das überhaupt möglich? Wir ließen uns treiben vom Tempo der Stadt, liefen an den Kanälen, den blühenden Parks, den geschäftigen Straßen vorbei und saugten die Atmosphäre auf. Piter, wie sie der Volksmund nennt, ist eine Stadt, die sich selbst in ihren Superlativen überbietet. Wie eine übereifrige Dichterin prahlt sie mit Euphemismen und Hyperbeln, aber auch mit Groteske und Antithesen.
Da sind die endlosen Prachtboulevards. Die Isaakskathedrale mit ihrer goldenen Kuppel, die Bluterlöserkirche mit ihren bunten Zwiebeltürmen und die monumentale Peter-und-Paul-Festung. Prachtvoll dekorierte Metro-Stationen, die mit ihren Kronleuchtern und Marmormosaiken eher an Paläste als an Bahnhöfe erinnern. Die Wände der Eremitage, an denen sich die Gemälde ebenso dicht wie die Besuchermengen drängen. Und das Gold. Das Gold des Peterhofes. Das Gold der Fabergé-Eier in den Souvenirläden. Das Gold der unzähligen Kuppeln und Türmchen der Stadt. Das Gold, das sich so abstrus von dem Meer an Betonbunkern am Stadtrand abhebt.
Die Palastanlage Peterhof. Man beachte die Menschenmengen im Hintergrund.
Am Ufer der Newa sonnten sich in diesen Tagen die Massen: dunkelbraun gebrannte Rentner, Familien, Teenager, Touristen. Es waren die ersten warmen Tage des Jahres und die Menschen waren sichtlich hungrig nach Licht und Leben. Die Worte des russischen Schriftstellers Fjodor Dostojevski schwangen in der Luft: „Es liegt etwas unbeschreiblich Rührendes in unserer Petersburger Natur, wenn sie bei Frühlingsbeginn ihre ganze Macht und alle ihr vom Himmel verliehenen Kräfte offenbart, sich putzt und mit Laub und Blüten schmückt…“
Geschmückt war die Stadt auch in anderer Hinsicht. Am Palastplatz prangte ein riesiges Plakat „9. Mai 1945“ – die Feiern zur Erinnerung an das Ende des Zweiten Weltkrieges standen vor der Tür.
„с днем победы“ (Zum Tag des Sieges): Plakate kündigen die Siegesfeier am 9. Mai an
Gegen Abend leuchtete die Stadt mit all ihren Brücken, Flüssen und Kanälen in Pastellfarben. Wie ein klassisches Gemälde in der Eremitage lag sie dort am Ufer der Newa. Die berühmten Weißen Nächte, sie sind nun nicht mehr fern.
Abends auf dem Palastplatz
Auf dem Nevski-Prospekt tummelten sich bis spät in die Nacht die feiernden, glückstrunkenen Massen, musizierten, tanzten, sangen. Sankt Petersburg versetzt dich (ganz ohne die Beihilfe von Wodka) in einen rauschartigen Zustand, der jede Müdigkeit vergessen lässt. Und wieder drängten sich Dostojewskis Worte auf: „Der Himmel war so sternenreich, so heiter, daß man sich bei seinem Anblick unwillkürlich fragen mußte: können denn unter einem solchen Himmel überhaupt irgendwelche böse oder mürrische Menschen leben?“
Ein paar Petersburger lassen Himmelslaternen in die Nacht steigen.
Sankt Petersburg nimmt dir den Atem und gibt ihn dir in tausendfacher Ausführung zurück. Die Stadt verwirrt, verblüfft, begeistert und empört, lähmt und bewegt, sie lässt dich stöhnen und staunen, verzweifeln und juchzen.
Knappe 58 Stunden gaben wir uns dem Rausch der Zarenstadt hin, dann hieß es Abschied Nehmen. An Deck der Fähre verfolgten wir, wie die goldenen Kuppeln am Horizont verschwanden. Fast zwei Stunden dauerte es, bis wir den gigantischen Hafen verlassen hatten. In die Jahre gekommene Lettern ленинград („Leningrad“) verkündeten Ein- und gleichzeitig Ausfahrt des Hafenareals. Zurück nach Europa.
Auf Wiedersehen Leningrad…ähm, Sankt Petersburg?
Visafrei nach Russland? Unter bestimmten Bedingungen ist es möglich, bis zu 72 Stunden in Sankt Petersburg zu verbringen. Dabei spart man sich das übliche Touristenvisum, das in der Regel um die 60-70€ kostet und rund zwei Wochen Bearbeitungszeit erfordert. Folgendes muss man beachten:
- Die Ein- und Abreise darf ausschließlich mit einer Fähre der St. Peterline erfolgen. St. Peterline fährt Helsinki und (seltener) Tallinn an.
- Maximal 72 Stunden Aufenthalt sind erlaubt. Da die Fähren nicht täglich fahren, ist meist nur ein Aufenthalt von ein oder zwei Nächten möglich.
- Ein gültiger Reisepass ist erforderlich.
- Bei Aufenthalten von mehr als einem Tag muss man eine Unterkunft (z.B. Hostelreservierung) vorweisen können.
- Zusätzlich zu der Fähre muss eine „City Tour“ gebucht werden. Dabei handelt es sich um einen simplen Shuttlebus, der zwischen Fähre und Innenstadt pendelt.
- Vor dem Boarding erhält man eine sogennante Arrival- und eine Departure-Card. Erstere wird bei der Einreise abgegeben, letztere bei der Ausreise. Unbedingt während des Aufenthaltes aufbewahren! Gleiches gilt für die Migrationskarte, die bei der Einreise ausgehändigt wird.