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Petersburger Nächte Erinnerungen an eine Traumreise


Hinter uns lag eine kurze, aber erholsame Nacht auf See. Das dumpfe Dröhnen der Schiffsmotoren und die sanften Wellenbewegungen der Ostsee hatten uns rasch in Tiefschlaf versetzt. Während wir durchs Reich der Träume irrten, fuhr unser Boot unbeirrt fort gen Osten, dem Sonnenaufgang entgegen. Frühmorgens weckte uns russische Popmusik, die aus dem Kabinenradio dudelte. Ein Blick auf die Uhr verriet, dass wir schon bald in den Hafen einfahren sollten. Schlagartig wach liefen wir an Deck – und prallten fast gegen eine dichte Nebelwand. Nur das leichte Schwanken des Schiffes und die gerade noch erkennbaren Wellen am Rumpf der Fähre ließen erahnen, dass wir uns fortbewegten. Eine gefühlte Ewigkeit starrten wir in die Nebelsuppe, versuchten schemenhafte Schiffe und Gebäude zu erkennen. Dann plötzlich: Wie von Zauberhand lichtete sich der Nebel und gab den Blick frei auf die goldenen Kuppeln der Zarenstadt. Aus dem Nebel erhob sich Sankt Petersburg.

Graues Fährterminal in Sankt PetersburgMorskoy Vokzal: Das Fährterminal in Sankt Petersburg

Lediglich eine grimmige Zollbeamtin trennte uns noch von Russland. Misstrauisch beäugte sie meinen Pass, glich mehrmals mein müdes Gesicht mit meiner biometrischen Fratze ab. Schließlich drückte sie den Stempel auf die allerletzte Seite meines Reisepasses, reichte mir meine Einreisedokumente und ließ mich gehen. Einen Schritt weiter stand ich zum ersten Mal in meinem Leben auf russischem Boden.

Empfang mit Pauken und Trompeten

Kaum hatten wir das Fährterminal verlassen, wurden wir schon von einem kleinen Blasorchester begrüßt. In der Stadt herrschte Feiertagsstimmung. Es war nicht nur der orthodoxe Ostersonntag, sondern dazu auch noch der 1. Mai – Tag der Arbeit. Zu unsern ersten Eindrücken der Stadt zählte daher die traditionelle Mai-Parade. Gewerkschaften, verschiedene politische Gruppen und Aktivisten marschierten durch die Straßen und verkündeten lauthals ihre Parolen. Die Zusammensetzung der Parade war dabei so absurd, dass wir uns mehrmals die Augen reiben musste: Putin-Fans und Neonazis liefen direkt vor Vertretern der Tierschutzpartei und LGBT-Aktivisten. Letztere, das muss man an dieser Stelle anfügen, wurden später am Tag festgenommen und mussten ihre Regenbogenflagge einrollen. Nicht Bunt, sondern Rot war die die dominiernde Farbe des Tages. Rote Fahnen, rote Flaggen, rote Ballons. Und immer wieder Hammer, Sichel und Stern. Die sowjetische Flagge entpuppte sich bei den Straßenhändlern als echter Verkaufsschlager. Es war ein skurriles Spektakel.

Zwischen Prachtboulevard und Plattenbau

Russland verstehen, Russland beschreiben, Sankt Petersburg in Worte fassen…ist das überhaupt möglich? Wir ließen uns treiben vom Tempo der Stadt, liefen an den Kanälen, den blühenden Parks, den geschäftigen Straßen vorbei und saugten die Atmosphäre auf. Piter, wie sie der Volksmund nennt, ist eine Stadt, die sich selbst in ihren Superlativen überbietet. Wie eine übereifrige Dichterin prahlt sie mit Euphemismen und Hyperbeln, aber auch mit Groteske und Antithesen.

Da sind die endlosen Prachtboulevards. Die Isaakskathedrale mit ihrer goldenen Kuppel, die Bluterlöserkirche mit ihren bunten Zwiebeltürmen und die monumentale Peter-und-Paul-Festung. Prachtvoll dekorierte Metro-Stationen, die mit ihren Kronleuchtern und Marmormosaiken eher an Paläste als an Bahnhöfe erinnern. Die Wände der Eremitage, an denen sich die Gemälde ebenso dicht wie die Besuchermengen drängen. Und das Gold. Das Gold des Peterhofes. Das Gold der Fabergé-Eier in den Souvenirläden. Das Gold der unzähligen Kuppeln und Türmchen der Stadt. Das Gold, das sich so abstrus von dem Meer an Betonbunkern am Stadtrand abhebt.

Die prunkvolle Palastanlage Peterhof. Man beachte die Menschenmengen im Hintergrund. Die Palastanlage Peterhof. Man beachte die Menschenmengen im Hintergrund.

Am Ufer der Newa sonnten sich in diesen Tagen die Massen: dunkelbraun gebrannte Rentner, Familien, Teenager, Touristen. Es waren die ersten warmen Tage des Jahres und die Menschen waren sichtlich hungrig nach Licht und Leben. Die Worte des russischen Schriftstellers Fjodor Dostojevski schwangen in der Luft: „Es liegt etwas unbeschreiblich Rührendes in unserer Petersburger Natur, wenn sie bei Frühlingsbeginn ihre ganze Macht und alle ihr vom Himmel verliehenen Kräfte offenbart, sich putzt und mit Laub und Blüten schmückt…“

Geschmückt war die Stadt auch in anderer Hinsicht. Am Palastplatz prangte ein riesiges Plakat „9. Mai 1945“ – die Feiern zur Erinnerung an das Ende des Zweiten Weltkrieges standen vor der Tür.

Palastplatz, Palast mit Plakat„с днем победы“ (Zum Tag des Sieges): Plakate kündigen die Siegesfeier am 9. Mai an

Gegen Abend leuchtete die Stadt mit all ihren Brücken, Flüssen und Kanälen in Pastellfarben. Wie ein klassisches Gemälde in der Eremitage lag sie dort am Ufer der Newa. Die berühmten Weißen Nächte, sie sind nun nicht mehr fern.

Abends auf dem PalastplatzAbends auf dem Palastplatz

Auf dem Nevski-Prospekt tummelten sich bis spät in die Nacht die feiernden, glückstrunkenen Massen, musizierten, tanzten, sangen. Sankt Petersburg versetzt dich (ganz ohne die Beihilfe von Wodka) in einen rauschartigen Zustand, der jede Müdigkeit vergessen lässt. Und wieder drängten sich Dostojewskis Worte auf: „Der Himmel war so sternenreich, so heiter, daß man sich bei seinem Anblick unwillkürlich fragen mußte: können denn unter einem solchen Himmel überhaupt irgendwelche böse oder mürrische Menschen leben?“

Ein paar Petersburger lassen Himmelslaternen in die Nacht steigen.Ein paar Petersburger lassen Himmelslaternen in die Nacht steigen.

Sankt Petersburg nimmt dir den Atem und gibt ihn dir in tausendfacher Ausführung zurück. Die Stadt verwirrt, verblüfft, begeistert und empört, lähmt und bewegt, sie lässt dich stöhnen und staunen, verzweifeln und juchzen.

Knappe 58 Stunden gaben wir uns dem Rausch der Zarenstadt hin, dann hieß es Abschied Nehmen. An Deck der Fähre verfolgten wir, wie die goldenen Kuppeln am Horizont verschwanden. Fast zwei Stunden dauerte es, bis wir den gigantischen Hafen verlassen hatten. In die Jahre gekommene Lettern ленинград („Leningrad“) verkündeten Ein- und gleichzeitig Ausfahrt des Hafenareals. Zurück nach Europa.

Hafen in Sankt Petersburg?Auf Wiedersehen Leningrad…ähm, Sankt Petersburg?

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