31. Dezember 2020
Es regnet in Sevilla als meine Cousine mich mit dem Auto abholt. Ich muss hinten sitzen, wir müssen Maske tragen, weil wir nicht im selben Haushalt wohnen … noch nicht. Denn wir sind unterwegs nach Los Barrios, wo ich ein paar Tage bei meiner Familie verbringe.
Die letzten Tage war es arg kalt in unserer sevillanischen WG. Die Wohnung ist so gut isoliert wie ein Kartenhaus und hat – wie die meisten in Andalusien – keine Heizung! Ich packe also den dicken Wintermantel ein … würde ihn aber nicht brauchen, denn in Los Barrios kitzelt das Thermometer an der 20-Grad-Marke.
Los Barrios
Die Kleinstadt in der Provinz Cádiz liegt zwei Autostunden von Sevilla entfernt. Am südlichsten Zipfel des europäischen Festlandes. Inmitten eines Nationalparks. Natur, Berge, Strand und ein Wetter zum Dahinschmelzen (im Sommer ist das wörtlich zu nehmen) – mein Onkel und meine Tante haben sich ein nettes Fleckchen Erde zum Leben ausgesucht.
Dazu muss man wissen, dass der Tag der Heiligen drei Könige (6. Januar) in Spanien traditionell zu den großen Weihnachtsfesttagen gehört, an dem es meistens auch die Bescherung gibt.
Das Reisen innerhalb der autonomen Region (am ehesten mit den deutschen Bundesländern zu vergleichen) ist gestattet. Zwischen dem 23. Dezember und 6. Januar darf Andalusien für Familienzusammenkünfte verlassen werden.
Die Ausgangssperre besteht von 23 bis 6 Uhr (vorher: 22 bis 7 Uhr).
Gastronomen dürfen bis 22:30 Uhr geöffnet haben, aber zwischen 18 und 20 Uhr keinen Alkohol ausschenken.
Personengruppen bis zu sechs Personen sind gestattet. Es wird empfohlen, dass sich nicht mehr als zwei Haushalte treffen.
Am 24., 25., 31. Dezember und am 1. Januar sind Zusammenkünfte von bis zu zehn Personen erlaubt.
Außerdem wird Altersheimbewohnern unter strengen Auflagen gestattet, die Familie zu besuchen. Die Regelungen, die da gelten, sind aber so komplex, dass ich sie hier nicht weiter erläutern möchte.
Tarifa
Unser erste Tagesausflug geht nach Tarifa. Das ist nun wirklich die am südlichsten gelegene Stadt des Landes. Eine Meerenge von gerade mal 14 Kilometern trennt sie von Marokko.
Tarifa wird aufgrund der optimalen Wetterbedingungen als eine der Hauptstädte des Wind- und Kite-Surfens angesehen. An guten Tagen preschen bis zu drei Meter hohe Wellen an die Küste. Die locos por el viento („Windverrückte“) – so werden die Sportler von den Einheimischen genannt – können sich hier sogar zwischen zwei Ozeanen entscheiden.
Weihnachten mit angezogener Handbremse
Die Feiertage verbringen wir im kleinen Kreis. Bei Eistee und gutem Essen. War abzusehen bei Corona und zweieinhalbtausend Kilometer zur Heimat. Ist aber völlig okay, wenn man das hier in der Nachbarschaft hat.
Winterspaziergang im T-Shirt
Wir sind auf der Montera del Torero. Das Gelände ist nach einem Felsen benannt, der einer Montera – einem Stierkämpferhut ähnlich sieht. Den habe ich nicht vor die Linse bekommen, als meine Cousine Lorena und ihr Freund Juan mich zu einem „Spaziergang“ mitgenommen haben.
„Spaziergang“ klang so unschuldig, als sie das sagten. Und es fängt auch unschuldig an. Bequemes geradeaus laufen. Vogelzwitschern. Sommerbrise im Dezember. Schon seltsam, dass mich der Geruch von Kuhfladen in meine Kindheit zurückversetzt.
„Du musst nur aufpassen“, sagt Juan. „Hier schwirren schon mal Skorpione rum.“
Ich denke, er scherzt – und scherze zurück: „Alles klar. Gibt es hier sonst noch irgendwelche Tiere, die mich umbringen könnten?“
„Nein, Quatsch … obwohl, doch! Wildschweine. Und vor ein paar Jahren habe ich hier mal Bekanntschaft mit einem Stier gemacht … aber dann bin ich einfach auf einen Baum geklettert. Oh, guck mal! Adler! Ist es nicht herrlich in der Natur? Ich bin gerade richtig entspannt!“
Übrigens: am 28. Dezember ist in Spanien Día de los Inocentes („Tag der Unschuldigen“) – das Pendant zu unserem 1. April, an dem Streiche gespielt werden. Unsere Wanderung war Tage vorher und Juan im vollen Ernst.
Er geht voraus und bald vom Trampelpfad ab ins Gebüsch – und dahinter geht es fast senkrecht bergauf.
„Hier geht es nicht lang!“, sagt meine Cousine.
„Doch doch, der Weg hier ist viel spaßiger!“
„Aber die Sträucher piksen!“
„Ach, die gehen doch nur bis zum Bauchnabel!“
„Du bist zwei Meter groß! Wenn sie dir bis zum Bauchnabel gehen, gehen sie mir bis ans Kinn!“
Ja! Es pikst und es gibt wohl Skorpione und Stiere, und vielleicht sind die Adler über uns auch gar keine Adler, sondern Aasgeier, die denken, mit uns leichtes Spiel zu haben. Außerdem habe ich es nicht so mit Höhen. Aber hier steigen wir den Berg hinauf – mit Händen und Füßen. Ich summe Western-Filmmusik und frage mich, wann ich das letzte Mal auf diese Art und Weiße durch die Natur gekraxelt bin.