24. Mai 2023
Worin unterscheidet sich das Studium an kolumbianischen versus deutschen Universitäten? Bleibt noch Zeit für Freizeit? Und wie kommen Freud, Fanon und Pachamama zusammen? Hier ein Überblick über mein Studium an der Javeriana, drei unangenehme Wahrheiten darüber und was ich sofort ändern würde, wenn ich noch einmal von vorn beginnen könnte.
Meine Heimatuniversität, die HU
Zu Hause in Berlin befinde ich mich im Master of Science in Psychologie an der Humboldt Universität (HU). 1809 gegründet und knapp 45.000 Studierende (einschließlich der Charité) sowie circa 4.000 Mitarbeitende beschäftigend, ist die HU alles andere als unbekannt in der akademischen Landschaft. Einen kurzen Überblick über meinen bisherigen Werdegang und das Plädoyer, warum du auch noch/erst recht im Master ins Ausland gehen solltest, findest du in diesem Beitrag. Ich bin Teil des letzten Jahrgangs in dem alten System des Psychologiestudiums an der HU, innerhalb dessen eigene Schwerpunktsetzungen (wie Neurowissenschaften, Sozial- und Ingenieurspsychologie) noch möglich sind. Seit dem Wintersemester 2022 gibt es nun einerseits den M.Sc. Psychologie mit Schwerpunkt Klinische Psychologie und Psychotherapie (KLIPP) und andererseits den (effektiv non-klinischen) englischsprachigen Master of Psychology (MoP). Ich habe bereits vor meinem Auslandssemester sämtliche Module abschließen können und arbeite aktuell an meiner Abschlussarbeit. Mit der Rückkehr nach Berlin werde ich die postgraduale Ausbildung zum psychologischen Psychotherapeuten beginnen.
Meine Gastuniversität, die PUJ
„Die Weisheit hat sich ein Haus erbaut“ ist das Motto der päpstlichen Universität Xaveriana, an der ich ein Auslandssemester studiere. Der eigentliche Name lautet Pontificia Universidad Javeriana und wird im Schreiben oft als PUJ abgekürzt, von allen aber schlicht Javeriana genannt. Sie wurde 1623 gegründet und ist somit einer der ältesten akademischen Einrichtungen in Lateinamerika. Mit 22.000 Studierenden (davon circa 4.000 postgradual) und über 5.000 Mitarbeitenden ist sie zwar etwas kleiner als die HU, gehört aber dennoch zu den größten Unis hier in Kolumbien und wird außerdem zu den besten Institutionen des gesamten Kontinents gezählt! Es gibt zudem eine Außenstelle in Cali. In Mexiko besteht mit der Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM) eine Institution, die staatlich und exzellent ist. Mein Kollege Lukas studiert übrigens dort gerade Architektur und teilt hier seine Erfahrungen. Gleichermaßen ist in Kolumbien beziehungsweise in Bogotá die „Nacho“ (Universidad Nacional de Colombia) öffentlich, eine der besten Institutionen des Landes und hat deshalb eine der höchsten Selektionsraten. Allein in Bogotá gibt es über 100 höhere Bildungseinrichtungen! Du wirst hier während deines Aufenthalts zweifelsohne außerdem von der Rosario, Externado und Universidad de los Andes hören. Die PUJ ist jedenfalls insbesondere für ihre Programme in Medizin, Zahnmedizin und Jura bekannt; die psychologische Fakultät ist ebenfalls sehr renommiert.
Meine Kurse in Kolumbien
Dieses letzte Semester meines Studiums ist tatsächlich ein Urlaubssemester. Mit anderen Worten zählen meine Kurse hier an der PUJ nicht für mein Studium in Berlin. Diese Freiheit ermöglicht mir, nach Belieben meinen Interessen auch abseits des Psychologie-Kurrikulums nachgehen zu können. Nichtsdestotrotz bin ich an der PUJ in dem postgradualen Studiengang Maestría en Abordajes Psicosociales para la Construcción de Culturas de Paz verortet. Dieser psychosoziale Master ist dem Studium diverser Aspekte gewidmet, die den Aufbau von Friedenskulturen begünstigen. Es dürfte gegenwärtig kaum ein besseres Land als Kolumbien geben, um sich dieser Thematik akademisch zu nähern. Die HU bietet zwar viele spannende Veranstaltungen – aber diesen besonderen Fokus und entsprechend geballte Expertise gibt es nur hier.
Konkret belege ich in jedem Fall die folgenden Kurse:
- Género, Conflicto y Paz – Sex, Gender, Konflikte und Frieden
- Estudios Culturales en América Latina (ECAL) – Kulturwissenschaften mit dem Fokus auf Lateinamerika
- Investigación de los Estudios Culturales en América Latina (Téorico) – Forschung zu Kulturstudien in Lateinamerika (theoretischer Fokus)
- Seminario en Línea des los Conflictos Armados de la psicología – Virtuelles Seminar zu der Auseinandersetzung mit den Auwirkungen bewaffneter Konflikte aus psychologischer Perspektive
- Problemas epistemológicos de la Psicología Clínica – Seminar zu Epistemologischen Problemen, aus klinischer bzw. psychoanalytischer Perspektive
Es handelt sich bei all diesen Kursen um Seminare. Das Modul zu klinischer Psyschologie (aus analytischer Perspektive) mit etwas mehr als 30 Teilnehmenden kommt einer Vorlesung noch am nächsten. Die Kurstitel verraten es schon: ich studiere hier ausschließlich auf Spanisch*. Mehr schlecht als recht, aber wöchentlich besser werdend! Mein Spanisch war zu Beginnn des Semesters wirklich nicht gut, ich konnte kaum zwei Sätze korrekt formulieren. Geschweige denn meine Meinung in gewünschter Qualität zu den besprochenen Themen äußern. Effektiv mündet das nach wie vor in sehr vielem aktiven Zuhören (energetisches Nicken und gelegentlicher Augenkontakt mit dem Redner/der Rednerin) und dem möglichst spontan wirkenden Vortragen der zurechtgelegten Sätze. Tatsächlich ist das aber eine gute Übung für das akademische Arbeiten! Schließlich liegt in der Kürze bekanntlich die Würze. Ich bin sehr zufrieden mit meinen Kursen, habe mich aber letztlich sehr stark an der Kursliste des Masterprogramms orientiert und nichts aus anderen Disziplinen gewählt.
*Es gibt einige Kurse der PUJ, die auf Englisch angeboten werden. Außerdem sehr gut zu wissen: für einen Studienaustausch braucht es in der Regel ein Sprachniveau von mindestens B2. Die kolumbianischen Partneruniversitäten setzen aber meist „nur“ ein Spanisch B1 voraus! Das resultiert also in dankbareren Zulassungsvoraussetzungen für uns und erspart dir womöglich einen weiteren zeitintensiven Sprachkurs im Semester vor der Bewerbungsfrist.
Wie studiert’s sich also in Kolumbien?
In Kurzform: wirklich wirklich angenehm! Wie bereits erwähnt, habe ich an der PUJ ausschließlich Seminare mit nie mehr als 30 Teilnehmenden. In meinem ECAL Kurs am Montag sind wir zu siebt, in ECAL am Dienstag letztlich nur zu dritt. Es wird also sehr schnell sehr vertraut. Ich habe nicht das Gefühl, dass jemand mit seinen Meinungen hinter dem Berg halten würde. Im Gegenteil: Ich erlebe die Diskussionen als ehrlich, persönlich und nichtsdestotrotz kritisch. Ein schöner Kontrast zu meinem bisherigen Psychologie-Studium, in dem die Debatten leider viel zu oft viel zu harmonisch verliefen und Dissens nicht offen diskutiert wurde.
Meine Professor*innen
Diese Diskurskultur hier ist zu keinem kleinen Teil meinen Professor*innen zuzuschreiben, die eine konstruktive und offene Atmosphäre schaffen. Wir duzen uns alle und die Kursleiter*innen werden mit Profe oder schlicht per Vornamen angesprochen. Den Profs auch mal (im akademischen Diskurs) zu wiedersprechen ist eher die Regel als die Ausnahme und wird gern gesehen. Ein produktiver Diskurs statt Wahrung der Hierarchie und unermüdlichem Sprint durch die Vorlesungsfolien also. Meine Professorin für den Kurs Sex, Género y Paz, hatte mit uns eine Whatsapp-Gruppe um die jeweiligen Projekte besser absprechen zu können. Als absehbar wurde, dass einige der Teilnehmenden einen Veranstaltungstermin nicht wahrnehmen können würden, wechselte sie prompt auf das virtuelle Format. Ich habe hier das Gefühl, dass wir Studierenden allermeist nicht als eindimensionale Wesen, sondern als wahrhaftige Menschen (mit einem vollen Alltag und vielen Verpflichtungen, auch außerhalb der Uni) wahrgenommen werden und die Profs gern bereit sind, uns in der Lösungssuche entgegenzukommen. Insbesondere in meinem Psychologie Doktorand*innen-Kolloquium zur Erforschung der psychosozialen Auswirkungen der bewaffneten Konflikte habe ich zuweilen den Eindruck, dass die Veranstaltung lediglich als Vorwand für alle Beteiligten dient, sich regelmäßig sehen und austauschen zu können! So macht Studieren wirklich Spaß.
Meine Kommiliton*innen
Es ist in Kolumbien eher normal, auf einer privaten Universität zu studieren. Im Umkehrschluss bedeutet das leider einen deutlich engeren Flaschenhals zu höherer Bildung. Während es in Deutschland mehr oder weniger üblich ist, den Master direkt an den Bachelor anzuschließen, haben nicht wenige meiner Kommiliton*innen an der PUJ erst einmal einige Jahre gearbeitet. Der Bachelor wird typischerweise mit 17 oder 18 Jahren begonnen und entsprechend mit 21 oder 22 Jahren abgeschlossen. Meine Kommiliton*innen im Master sind in der Regel eher Ende 20 und älter, haben parallel einen Teil- oder sogar Vollzeitjob und mitunter bereits Kind und Kegel. Ein Semester an der PUJ kann umgerechnet im Pregrado zwischen 2.500 und 5.000 Euro und im Posgrado zwischen 5.00 und 7.500 Euro kosten. Die Studierendenschaft setzt sich deshalb im Wesentlichen aus drei Bereichen zusammen: Studierende aus finanziell gut situierten Familien, Stipendiat*innen (wie unter anderem meine Kommilitonin Lucía aus Bolivien) und dem zur Selbstfinanzierung gezwungenen Großteil der Studis.
Drei unangenehme Wahrheiten
Die Präsenzpflicht
Leider gibt es an der PUJ eine Präsenzpflicht. Das ist für mich nicht nur ungewohnt, sondern für uns abenteuerlustige Austauschstudierende regelrecht ungünstig. Bis zu drei Mal wird das Fernbleiben toleriert. Wird es mehr als das, gilt der Kurs automatisch als nicht bestanden. Inwieweit der Bonus des Austauschstudierenden wirkt, hängt natürlich von der jeweiligen Lehrperson (und vermutlich deren Verständnis für die Abenteuerlust) ab. Allerdings habe ich (leider) meine Profs in diesem Aspekt als ziemlich humorlos erlebt.
Die Uhrzeiten
Während in meinem Studium in Deutschland eine Veranstaltung in der Regel für zwei Stunden (also effektiv für 90 Minuten) angesetzt war, sind es hier drei Stunden. So spannend ich die Abhandlungen von Foucault und Fanon auch finde – nach drei vollen Zeitstunden diesbezüglichen Diskurses auf Spanisch brummt mir dann doch der Kopf. Um der Lebensrealität vieler Studis im Master gerecht zu werden, finden die Kurse im Vergleich zu Deutschland in eher unkonventionellen Formaten statt. So gibt es zum Beispiel Kurse um sieben Uhr morgens oder, wie im Großteil meiner Kurse, von sechs bis neun Uhr abends. Dich können auch gut und gern Blockseminare (einschließlich am Wochenende) bis hin zu sogenannten semanas concentradas erwarten. In Letzterem wird der Kursinhalt nicht über das gesamte Semester verteilt, sondern in zwei bis drei intensiven Wochen abgehandelt. Da die Masterprogramme teilweise sehr spezifisch ausgerichtet sind, ist nicht gesagt, dass alle Kommiliton*innen ihren Lebensmittelschwerpunkt in Bogotá haben.
Die Hausaufgaben
In Deutschland ist die Vorlesungszeit bis auf ein gelegentliches Referat im Großen und Ganzen recht entspannt und dafür die Klausurenphase umso intensiver. Teilweise ist es nach wie vor so, dass sich die Modul-Gesamtnote aus einer einzigen Prüfungsleistung (der Klausur) ergibt. Das ist in vielen anderen Ländern, inklusive hier in Kolumbien, zum Glück nicht so strukturiert. Die Gesamtnote in allen meiner Seminare setzt sich aus mindestens drei Komponenten zusammen. Die klassische Struktur sieht ein parcial, also eine Zwischenprüfung, und trabajo final, die Abschlussprüfung, vor. Ich habe gehört, dass es in den meisten Bachelor-Kursen noch deutlich verschärfter ist. Aber auch meine Kurse im Master würde ich in diesem Aspekt etwas verschulter als in Deutschland beschreiben. Zum Beispiel lesen wir in Vorbereitung auf die ECAL Kurse montags und dienstags die obligatorische Lektüre von jeweils circa 60 Seiten und beantworten anschließend Fragen dazu.
Was ich im zweiten Anlauf anders machen würde
Hinsichtlich der Kurswahl würde ich im Nachhinein vielleicht ein oder zwei Kurse mehr auch aus anderen Disziplinen wählen. Ich war ehrlich gesagt davon ausgegangen in dem Kursangebot der Psychologie bleiben zu müssen, weil meine Gastuni in Montréal damals sehr großen Wert darauf gelegt hatte. Das war aber ein Irrtum! Eine (schwedische) Freundin von mir belegt zum Beispiel Ultimate Frisbee, eine weitere einen Töpferkurs und Portugiesisch. Die Programmliste hat eine ganze Menge zu bieten. Also lies die Mails am besten etwas akribischer als ich und frag sonst einfach im International Office (liebe Grüße!) oder direkt bei den in OutOfTown aktiven Compis (Compañerxs; die Studierendeninitiative für alle Austausch-Studis) nach. Du kannst in den ersten Wochen auch noch problemlos Kurse wechseln. Wie du dir vorstellen kannst ist es allerdings deutlich leichter, im Nachhinein Kurse abzuwählen als nachträglich in neue Kurse aufgenommen zu werden. Also schreibe dich besser zu Beginn in ein oder zwei Kurse mehr ein, um den eigenen Handlungsspielraum zu vergrößern. Gemäß der Visa-Bestimmungen müssen wir insgesamt mindestens zehn Stunden pro Woche Kurse belegen, um dem Status des Vollzeit-Studierenden zu erfüllen. Die meisten meiner (internationalen) Freund*innen belegen hier drei bis fünf Kurse pro Semester. Deine Flexibilität bezüglich der Kurswahl wird verständlicherweise von deiner Studiensituation und den in deinem Studium noch benötigten Modulen diktiert. Hier findest eine gute Übersicht zu der Anrechnung von im Ausland erbrachter Leistungen an deiner Heimatuniversität.
Die Gefahr ist nicht zu unterschätzen, dass dein Semester hier in Kolumbien gefühlt nur so an dir vorbeifliegt und du im Handumdrehen an den letzten Abgaben sitzt. Sofern es dir deine Lebensumstände ermöglichen: Von Seiten der Javeriana ist eine Verlängerung um ein weiteres Semester relativ problemlos möglich. Grundsätzlich erlebe ich das internationale Büro der PUJ als wirklich bemüht, uns zur bestmöglichen Zeit in Bogotá zu verhelfen und jeweils eine für alle Beteiligten zufriedenstellende Lösung zu finden. Mit welchem Dilemma auch immer du dich konfrontiert siehst – ich kann dir nur raten, es nicht unversucht zu lassen und nachzufragen.
Ich hoffe, dir mit diesem Beitrag Lust auf das Auslandssemester an der Javeriana in Bogotá oder einer der kolumbianischen Partner-Universitäten deiner Uni gemacht zu haben! Schau dich gern etwas auf dieser Website um, zum Beispiel bericht meine Kollegin Paula hier über ihr Studium in Estland und Sally über ihr Auslandssemester in Norwegen! Und zögere nicht mir direkt zu schreiben, solltest du irgendwelche Kolumbien-spezifischen Fragen haben.
ErlebeEs – am besten selbst! 🙂
– Julius