17. März 2016
Auf den ersten Blick spricht wenig dafür, Estnisch zu lernen. Weltweit gibt es nur eine knappe Million Estnisch-Sprecher – und ein Großteil davon beherrscht perfekt Englisch. Als ERASMUS-Studentin in Tallinn überlebt man auch ohne Estnischkenntnisse. Die Universität bietet genügend Kurse auf Englisch (teils sogar auf Deutsch!) und auch im Alltag ist Englisch akzeptierte Lingua Franca. Ist ein Estnischkurs also vergeudete Liebesmüh? Nicht zuletzt ist die Sprache mit ihren 14 Fällen kein grammatikalisches Zuckerschlecken. Warum es sich trotzdem lohnt, ins kalte Wasser zu springen und Estnisch zu lernen…
1. …weil du mehr über Estland erfahren wirst.
Für mich stand von Vornherein fest, dass ich einen Estnischkurs belegen möchte – schon allein aus Respekt gegenüber dem Land, das mich als Austauschstudentin so willkommen hieß. Ein Sprachkurs vermittelt nicht nur Grammatik und Vokabeln. Ein Sprachkurs ist immer auch eine Lektion in Geschichte und Kultur der Sprachgemeinschaft. Wenn eine Sprache eigene Begriffe für die „Reise in ein warmes Land“ (soojamaareis) oder „Person, die Wasser auf die heißen Steine in der Sauna wirft“ (leiliviskaja) hat, dann sagt das viel aus über die Gesellschaft, in der diese Sprache gesprochen wird. Die Ostsee heißt auf Estnisch übrigens Läänemere (dt. „Westsee“) – was aus estnischer Perspektive durchaus Sinn macht! Eine neue Sprache lernen, das bedeutet auch, die eigene Weltsicht zu reflektieren und neue Perspektiven einzunehmen.
2. …weil du schon 25% Estnisch kannst!
Mit seinen 14 Fällen und einer übermäßig stark ausgeprägten Vorliebe für Vokale wirkt Estnisch zunächst ziemlich fremd und kompliziert. Die gute Nachricht: Ungefähr 25% des estnischen Vokabulars sind Lehnwörter aus dem Deutschen. Wer Deutsch kann, beherrscht Estnisch also schon zu 25% – so die Theorie. Ich stand dieser Behauptung zunächst sehr skeptisch gegenüber. Mittlerweile entdecke ich aber immer mehr Wörter, die mir irgendwie vertraut vorkommen. Einige offenbaren sich erst auf den zweiten Blick:
- mööbel (Möbel)
- gümnaasiumi (Gymnasium)
- reisibüroo (Reisebüro)
- kool (Schule)
- tool (Stuhl)
3. …weil Estnisch gar nicht so schwer ist.
Und dann war da ja noch die Aussage unser Estnisch-Dozentin. „Estonian has no sex and no future“. Will heißen: Im Estnischen gibt es kein grammatikalisches Geschlecht und keine Zukunftsform. Wer sich mal mit den lateinischen Genera oder den verschiedenen Zukunftsformen im Französischen rumschlagen musste, hat im Estnischen leichtes Spiel. Ein weiteres Plus: Estnisch wird so geschrieben wie es gesprochen wird. Das resultiert dann in solch fabelhaften Konstrukten wie disain, kauboi, informatsioon oder kvaliteet. Manche estnischen Worte klingen so wunderbar witzig, dass das Lernen von selbst passiert. Lapselapselaps ist der Großenkel, küsimusi sind die Fragen. Und was alle Studierenden schnell drauf haben: Terviseks – Prost!
4. …weil du mit Estnisch punktest.
All die harte Arbeit wird belohnt: Sage und schreibe 16 ECTS erhält man an der Tallinna Ülikool für einen Semesterkurs Estnisch (4 Stunden/Woche). Damit ist das Semester-Soll von 30 ECTS schon zur Hälfte erfüllt. Die meisten von uns ERASMUS-Studierenden können sich den Kurs an ihrer Heimatuniversität anrechnen lassen (Tipp: Module wie Allgemeine Studien, General Studies, Allgemeine Berufsvorbereitung etc. checken).
5. …weil dir der Exoten-Bonus sicher ist.
Spanisch kann jeder (lernen), aber Estnisch? In Deutschland gibt es kaum Möglichkeiten, einen Estnischkurs zu belegen. In der Metropole Berlin habe ich lediglich einen Anfängerkurs an der VHS sowie an einer privaten Schule entdeckt. Mit Estnischkenntnissen ist man also ein echtes Unikat auf dem Arbeitsmarkt. Mitunter eröffnen sich dadurch ungeahnte Jobchancen (Global Player wie Skype, TransferWise und Pipedrive sind estnische Unternehmen!).
Zu guter Letzt: Eine Sprache ist immer so schwer, wie man sie sich macht. Mit der richtigen Motivation und einer ordentlichen Portion Mut kann man auch eine scheinbar komplizierte Sprache wie Estnisch lernen. Meine estnische Tandempartnerin habe ich nur deshalb kennengelernt, weil ich meinen Espresso im Café auf Estnisch bestellt habe – mit so fürchterlich deutschem Akzent, dass sie auf mich aufmerksam wurde und mich gefragt hat, ob wir uns gegenseitig beim Sprachen Lernen helfen wollen.
Lieblingswörter
- sünnipäevanädalalõpupeopärastlõunaväsimatus – unbegrenzte Energie am Sonntagabend nach einer Geburtstagsfeier, die das ganze Wochenende gedauert hat
- tööööööbik – jemand, der die Nacht durcharbeitet (wortwörtlich eine „Nachtarbeitsnachtigall“)
- jäääär – Eiskante
Rainer
25. September 2018
Ich bin ein Velofahrer aus der Schweiz, 67, und ich war noch nie im Baltikum, habe mich spontan aufgrund einer Zeitungsnotiz über das Tallinner Filmfestival Ende November 2018 für eine Woche Ferien in Tallinn entschieden. Weil ich auch denke, dass das Lernen einiger Worte der Landessprache den Eingeborenen Respekt erweist, habe ich gegoogelt und das hier gefunden. Also, ich werde vom 25.11. bis 1.12. in Tallinn sein und bin offen für Einladungen all jener, die hier schon länger leben, vielleicht ebenfalls ein Fahrrad benützen (oder mir eines leihen oder vermitteln könnten) und sich mit mir austauschen wollen.
Rainer
Rebecca
22. Januar 2018
Hi! Ich bin gerade zufällig auf diese Seite gestoßen. Ich bin zwar noch auf der Schule, aber habe gemerkt, dass ich sozusagen „zurück“ nach Estland will. Um das zu verstehen, meine Mutter ist estin und hat mit mr und meinen Geschwistern von klein auf estnisch gesprochen (wofür ich ihr dankbar bin) und mich zieht es jetzt wieder nach Estland. Wir besuchen aber auch in den Ferien meine Großeltern dort. Jedenfalls habe ich jetzt einen Überblick wo ich estnisch/finnouistik studieren könnte und danke dir. Liebe Grüße
Uwe
11. Dezember 2017
Hi Jana,
Ich war gerade dabei mich mal umzuschauen, wie und ob ich estnisch lerne und hatte schon totale Panik, da ich der Meinung war, dass ich estnisch nicht, wie meine anderen Sprachen, irgendwo ableiten kann.
Dein Artikel ist jedoch so erfrischend, informativ und positiv und macht mir Mut, mich doch mal locker dran zu setzen und anzufangen – danke dafür.
Gruß Uwe