11. Oktober 2021
Die ersten chaotischen Tage des Ankommens hier in Istanbul liegen hinter mir, doch ich erlebe weiterhin viele herausfordernde Momente. Gleichzeitig begegnet mir tatsächlich in jeder Situation, die droht, mich verzweifeln zu lassen, ein Mensch, der sich berufen fühlt, mir zu helfen.
Es ist wieder Montag. Es ist sonnig in Istanbul und ich habe erneut im unscheinbaren „Limon Café“ unweit der Boğaziçi Üniversitesi (dt. Bosporus Universität) Platz genommen. Hier stimmen die Vibes einfach. Hinter mir befindet sich ein Schulhof. Statt einer Klingel, die den Tag für die Grundschüler*innen strukturiert, ertönen hier kurze Klavierstücke. Das gefällt mir gut. Nicht nur, weil ich als Kind Klavierunterricht bekommen habe, sondern auch, weil es mir weniger stressig erscheint als die deutsche Pausenglocke. Weil ich plane, im nächsten Jahr mein Erstes Staatsexamen zu machen, fühle ich mich an diesem Ort daran erinnert, dass ich eine weltoffene und faire Lehrerin werden möchte. Eine „Ehrenfrau“ sozusagen, wie manche Kinder in Gießen sagen würden.
Eine Hand wäscht die andere: Türkisch-Deutsche Freundschaft Vol. 1
In meinem ersten Blogbeitrag hatte ich beschrieben, dass ich nicht nur das türkische Essen, sondern auch die Herzlichkeit der Menschen hier vor Ort sehr schätze. In den vergangenen Tagen war diese ehrlich gesagt überwältigend. Am Dienstag habe ich mich zum ersten Mal auf den Weg zum Acıbadem Campus gemacht, um an einem „Documentary Photography“-Kurs teilzunehmen. Meine Idee dahinter war, dass ich in einem praxisorientierten Seminar sicher schrittweise türkische Begriffe lernen könnte und es mir leichter fallen würde, den Inhalt des Seminars zu erfassen. Nach einer guten Stunde Anreise mit Bus und Metrobus erreiche ich die Fakultät der Bildenden Künste (Güzel Sanatlar Fakültesi).
Doch direkt am Eingangstor wird mir erklärt, dass es wegen Bauarbeiten an dieser Stelle erst in drei Wochen losginge. Interessante Information. Auf der Homepage meiner Heimatuniversität wäre ich darüber vermutlich rechtzeitig in Kenntnis gesetzt worden. In der Türkei jedoch „hoppelt der Hase“ sprichwörtlich anders, wie mir scheint. Mich aufzuregen bringt selten etwas, das weiß ich. Meine Augen offen zu halten und nach Hilfe zu suchen, führt mich meistens eher zum Ziel.
Wenige Sekunden später verweisen mich die Pförtner, weil sie selbst kaum Englisch sprechen, auch schon an eine ehemalige Studentin des Fachbereichs für Architektur. So lerne ich Burcu kennen. Sie führt mich über den Campus und stellt mich dem Leiter der Fakultät der Bildenden Künste vor. Hier erhalte ich die Kontaktdaten einiger Professoren. Ich möchte sie anschreiben, um zu erfahren, wer eventuell auf Englisch unterrichten wird und welche Anforderungen es in den jeweiligen Seminaren gibt. In Deutschland kann ich das im Vorlesungsverzeichnis nachlesen. In der Türkei habe ich diese wichtigen Informationen noch nicht finden können.
Burcu, die demnächst nach Frankfurt ziehen möchte, nimmt sich sogar noch Zeit, um sich um meine Metrokarte zu kümmern. Weil diese seit dem Vortag mal wieder nicht funktioniert und ich das Ticket eines Bekannten ausgeliehen habe, ruft die freundliche Architektin in meinem Namen dreimal die entsprechende Servicenummer an, um zum Ziel zu kommen. Ich weiß nicht, wer von meinen Freunden zu Hause Lust hätte, teilweise 20 Minuten in einer Hotline-Warteschleife zu hängen, aber Burcu bleibt gelassen! Ich lade sie im Gegenzug dafür zum Mittagessen ein. Außerdem werde ich ihre Bewerbung für eine Firma in Frankfurt Korrektur lesen. Läuft.
Auf Englisch studieren in Istanbul?
Am Mittwoch gebe ich der Fakultät der Bildenden Künste eine zweite Chance. Es ist nicht derselbe Campus, also sollten mir keine Bauarbeiten in die Quere kommen. Doch der Kurs „Visual Editing“ findet online und auf Türkisch statt. Das erfahre ich aber erst, nachdem ich gut 90 Minuten Anreise (okay, ich bin auch einmal zu früh aus dem Bus ausgestiegen) hinter mich gebracht habe. Pflichtbewusst bin ich bis zum Göztepe Campus auf der anatolischen Seite gefahren. Es hätte schließlich sein können, dass ich zumindest den richtigen Raum finde und mit dem Dozenten darüber sprechen kann, wie ich ohne nennenswerte Türkischkenntnisse in der Lage sein könnte, den Leistungsnachweis für sein Seminar zu erfüllen.
Offenbar sehen mir die Menschen hier schon an, dass ich hilfebedürftig bin. Eine Studentin spricht mich aus heiterem Himmel an, ob ich etwas suche, und schickt mich zumindest in das richtige Gebäude, das ich ohne sie vermutlich noch eine Weile gesucht hätte. Ich finde schließlich den entsprechenden Raum, den Professor jedoch nicht. Dafür lasse ich mir auch hier in einem Sekretariat einige wichtige Emailadressen notieren, damit ich herausfinden kann, ob tatsächlich alle Kurse, die ich großzügig in meinen Stundenplan gepackt habe, auf Türkisch durchgeführt werden. Ehrlich gesagt hatte ich auch mit nichts Anderem gerechnet, aber in Gießen hieß es während des Bewerbungsprozesses für mein Stipendium, dass es auch Kurse auf Englisch gäbe. Und die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.
Angemeldet habe ich mich auch für den Kurs „Koro 1“ der Musikalischen Fakultät. Seit meiner Kindheit habe ich mit viel Engagement im Chor gesungen. Ähnlich wie beim Thema Dokumentarfotografie war auch hier meine Idee, dass Chorgesang doch irgendwie praktisch veranlagt wäre und es mir möglich sein müsste, den Inhalten einer Chorklasse zu folgen. Aber nein, falsch gedacht. Auch Chor findet online statt. Ja, und auf Türkisch sowieso.
Ich merke mir also: es gibt immer einen Grund, warum ich mich auf den Weg mache. Der Tag hier verläuft nie wie geplant. Dafür widerfahren mir glückliche Begegnungen. Und vielleicht geht es in diesem Semester gar nicht so sehr um mein Studium, sondern um die Erfahrungen, die ich in der Türkei machen darf.
Über einen Studenten, den ich neben einem Flügel stehend anspreche, finde ich draußen in der Cafeteria den verantwortlichen Professor. Bülent ist mir auf den ersten Blick sympathisch. Wenn ihr schon einmal die Aura eines waschechten Dirigenten beobachtet habt, versteht ihr, was ich meine. Bülent trägt graue Locken und Brille, sitzt erhaben allein an einem Tisch, trinkt Mocca und scheint gerade seine Mittagspause zu genießen. Der Student erklärt ihm, dass ich mich frage, wann die Chorklasse stattfinden wird. Ich konnte mich zwar zu dem Kurs anmelden, mein digitaler Stundenplan sagt mir allerdings nicht, in welchem Zeitfenster dieser abgehalten wird. Erstaunt sieht mich Bülent an und bittet mich, neben ihm Platz zu nehmen. Er sei „shocked“ gewesen, meinen Namen auf seiner Teilnehmer*innenliste zu lesen. Sein Englisch sei nicht besonders gut und der Kurs fände – surprise, surprise! – in der Landessprache statt. Der Professor scheint sich allerdings sehr zu freuen, dass ich persönlich auf dem Campus vorbeischaue. Er erzählt mir aus seiner Vergangenheit als Chorsänger, von seinen deutschen Sängerfreunden Ulrich und Fritz und beschreibt, wie absurd es doch sei, Chor online zu unterrichten. Ganz meine Meinung, Bülent! Am Ende sitzen wir knapp 90 Minuten zusammen und ich bekomme von dem gebürtigen Georgier eine opereske Comedy Show vom Feinsten geboten. Die anderen Gäste der Cafeteria schauen mit einer gewissen Ehrfurcht zu uns herüber. Wann immer sich ein Kollege des Musikprofessors für einige Minuten zu uns setzt, wird mir ein neues Getränk gereicht. Ich fühle mich sehr besonders und herzlich willkommen.
Feeling special: Privatstunden für internationale Studierende
Bülent demonstriert seine Atemübungen, singt und arbeitet mit sehr viel Mimik, um mich in meiner Vermutung zu bestätigen, dass eine richtige Chorklasse mit ihm, live auf dem Campus, ein eindrückliches Erlebnis wäre, aus dem ich viel mitnehmen könnte. Der Kurs wird zwar online bleiben, Freitagabend soll er über ein Uniportal, mit dem ich mich erst noch einmal in Ruhe auseinandersetzen muss, laufen. Aber der Musikprofessor bietet mir an, von nun an dienstags nach der Mittagspause auf den Campus zu kommen. Dann würde er versuchen, mir auf Englisch zu erklären, was er freitags unterrichtet hat. Es geht in seinem Kurs nämlich darum zu lernen, einen Chor anzuleiten. Und dazu braucht es Mimik, Gestik und sehr viel Pathos!
Mustafa Bilge Satkin, Dozent des Documentary Photography-Kurses, verweist mich derweil an einen Kollegen, der aktuell in London wohnt und seine Fotoklasse sicher auf Englisch unterrichten könne. Mich fasziniert, wie schnell Dozierende an der Marmara Universität auf die Belange der internationalen Studierenden eingehen. Nur wenige Minuten später ruft mich besagter Kollege Oktay Çolak auch schon an. Wenn ich noch mehr interessierte Studierende finden könne, nehme er sich donnerstags sehr gerne eine Stunde Extrazeit, um uns die Kursinhalte auf Englisch zu erklären. Da nicht alle Einheimischen Studierenden gutes Englisch sprächen, könne er nicht das gesamte Seminar auf Englisch halten. Das leuchtet mir ein. Wie gesagt hatte ich ursprünglich auch gar nicht damit gerechnet, dass an der Uni in Istanbul vieles in Fremdsprachen stattfinden würde. Ich studiere schließlich nicht Business Administration. Umso mehr freue ich mich über die Hilfsbereitschaft der hiesigen Dozierenden und das zusätzliche Engagement, das sie für uns „Fremde“ aufbringen möchten. Und wenn wir Glück haben, kommt Oktay irgendwann aus London zurück nach Istanbul gereist und bringt uns bei, analoge Fotos zu entwickeln.
Der erste Online-Kurs
Am Donnerstag versuche ich zum ersten Mal, einem Onlineseminar zu folgen. Mr Fikri Kekilli, der im Bereich Filmdesign an der Marmara Üniversitesi tätig ist, hat uns über Zoom eingeladen und offenbar die Absicht „Editing 1“ als Frontalvortrag zu verpacken. Das ist schade. Ich hatte nämlich die Fantasie, hier zu lernen wie ich meine künftigen YouTube-Videos ansprechend schneiden könnte. Aufgrund technischer Probleme wird das Seminar allerdings sowieso schon nach wenigen Minuten abgebrochen. „Don’t worry about it“, schreibt mir der Dozent später in einer Email. Ich merke schon, dass mein deutsches Ordnungsherz für die Maßstäbe der türkischen Uni viel zu pflichtbewusst handelt. Selbst einheimische Studierende, mit denen ich am Samstag über eine Kunstmesse schlendere, wissen nicht, wann ihre Kurse tatsächlich starten. Und mein sogenannter „Coordinator“ lässt mich wissen, dass die Dozierenden ihre Uni- Mails darüber hinaus eher selten lesen. Besser würde man sie doch über WhatsApp erreichen. (Wenn WhatsApp nicht gerade lahmgelegt wird!) Das würde mir in Deutschland nie passieren. In Gießen zumindest läuft alles sehr viel förmlicher ab als das, was mir an der Marmara Universität bislang begegnet ist. Die Kommunikation zwischen Dozierenden und Studierenden fasziniert mich hier nachhaltig. Es gibt sogar WhatsApp-Gruppen, in denen die Filmstudierenden von Mustafa als „Freunde“ (arkadaşlar, dt. die Freunde) angesprochen und über lesenswerte Bücher oder aktuelle Ausstellungen informiert werden. Und dass sich die Dozierenden regelmäßig nach mir erkundigen und anbieten, sie bei Fragen doch gerne auf dem Campus zu besuchen, finde ich großartig! So fühle ich mich in all dem Chaos nicht komplett verloren.
Kommunikation zwischen Dozierenden und Studierenden: sehr viel persönlicher als zu Hause
Die Chorklasse am Freitag ist online dann tatsächlich nicht sonderlich ertragreich für mich. Ich verstehe vor allem nicht, ob sie simultan stattfindet oder Bülent ein aufgezeichnetes Video hochladen wird. „Don’t worry. We can open your online class dissolve“, schreibt mir der Dozent in einem nicht ganz störungsfreien Englisch über WhatsApp. Entspann dich, Sophie. Das wird hier schon langsam werden. Deine „Probleme“ werden sich in Luft auflösen. Ich denke das ist, was mir der singende Professor mit auf den Weg geben wollte. Am nächsten Tag ruft mich Bülent sogar an, um sich nach mir zu erkundigen. Er habe seinen Studierenden gesagt, dass wir nun einen deutschen Gast hätten und wer möchte, dürfe dienstags auf den Campus kommen und miterleben, wie er mir die Seminarinhalte in einem Mix aus Türkisch, Englisch und Italienisch vermitteln wird. In seinem Büro hängt nämlich ein großes Bild von Pavarotti und ein guter Chorsänger muss Italienisch zumindest singen können!