14. Februar 2016
Tallinn, du Schöne. Tallinn, du Morbide. Tallinn, du Alte. Tallinn, du Moderne. Tallinn, du Verrückte. Zwei Wochen bin ich nun schon hier, aber die Stadt überrascht mich noch immer jeden Tag aufs Neue. Bevor ich zum ersten Mal Tallinner Boden betrat, hatte ich meine ganz eigenen Vorstellungen: Irgendetwas zwischen mittelalterlicher Idylle und sozialistischem Realismus. Und jetzt entdecke ich täglich neue Facetten der Stadt. Tallinn, du Bunte.
Blick über die Dächer von Tallinn
Wenn ich unser Haus (einen 20er-Jahre-Bau) verlasse, finde ich mich auf einer der Hauptstraßen Estlands wieder. Autos, Straßenbahnen und Menschen ziehen an mir vorbei. Gegenüber das größte Telekommunikationsunternehmen des Landes. Wenige Schritte weiter erheben sich futuristische Wolkenkratzer und kitzeln an der dichten Wolkendecke über Tallinn. Ein paar Flocken rieseln auf die bunten Dächer der Stadt herunter. Ich lese überdimensionale Bankenwerbung und den Schriftzug vom estnischen World Trade Center. Tallinn, das Manhattan Estlands, denke ich an vielen Ecken der Stadt. Ein Luxuskaufhaus zieht die finnischen Fähr-Touristenmassen magisch an. In den gläsernen Fassaden spiegelt sich ein grauer sowjetischer Plattenbau.
Moderne Glasfronten
Von der Moderne ins Mittelalter
Bei jedem Schritt in Tallinn muss man damit rechnen, in ein Zeitloch zu fallen. Ich lasse die Wolkenkratzer hinter mir, durchschreite Tallinns mittelalterlichen Stadttore – und werde in die Vergangenheit katapultiert. Verwinkelte Gassen, alte Scheunen und Speicher. Aus kerzenbeleuchteten Gewölbekellern klingt mittelalterliche Musik. Ein Barde unterhält die Passanten mit seinen Minnesängen. Es duftet nach Feuer und Kesselgulasch. Ein Mensch in Mönchskutte empfiehlt mir das Tagesmenü in der Schänke um die Ecke. Aus der Ferne erklingen die Kirchenglocken der Olai-Kirche.
In der Altstadt
Worauf Touristen hier abfahren.
Immer tiefer in Mittelalterromantik schwelgend, werde ich plötzlich wieder zurück in die Gegenwart katapultiert: Aus einem Souvenirläden strömt ein Haufen von taschenbeladenen Touristen. Ich entkomme gerade so einem unbeabsichtigten Hieb mit dem Selfie-Stock (dem Schwert des 21. Jahrhunderts). Ein Blick ins Schaufenster erklärt die umwerfende Shoppingwut der Besucher. Tierische Engelsporzellanskulpturen. Interessant.
Mysteriöser Touri-Kitsch
Der Hafen und das raue Meer
Während das laute WARUM noch in meinem Kopf widerhallt, ein neuer Ton: Das laute Tuten der Fährschiffe nach Helsinki. Am Hafen, zwischen Alkohol-Depot (dem finnischen Tor zum Jenseits) und Fähr-Terminal (dem estnischen Tor nach Helsinki), bekomme ich Fernweh. Tallinn, du Tor zur Welt. Doch da ist noch mehr: Ein riesiger, langsam verfallender Gebäudekomplex. Linnahall (dt. Stadthalle) sagt mein smartes Telefon. Die zu Sowjetzeiten erbaute Halle scheint ihre besten Zeiten hinter sich zu haben. An den Mauern haben sich Graffitikünstler verewigt. Ich steige auf das Dach der alten Stadthalle und werde mit einem weiten Blick über die Ostsee belohnt. Hinter mir die lauten Lichter der Stadt, vor mir die Dunkelheit der See. Ein paar Angler, sonst keine Menschenseele. Die Wellen peitschen gegen den Beton.
Linnahall
Vom Fischerdorf zur Hipster-Hochburg
Ich ziehe weiter, vorbei an den skandinavisch anmutenden Holzhäusern von Kalamaja (dt. Fischhaus), dem alten Fischerbezirk der Stadt. Es duftet nach Kaffee und Zimtschnecken. Bullerbü-Romantik vom Feinsten. Vorbei am Baltijaam, dem Tallinner Hauptbahnhof, hier hört man Durchsagen auf Estnisch, Russisch und Englisch mit slavischem Einschlag. Hinter den Gleisen und verfallenen Industriebauten taucht schließlich meine letzte Station auf: Telliskivi. Was einst ein trostloser Stadtteil war, ist nun die Hipster-Hochburg Estlands. Auf einmal bin ich zurück in Berlin. Hipsterbärte, Tannenbäume, Holzpalettenbänke, Lichterketten, Club Mate, Veggie-Burger und Indie-Musik in aufgehübschten Fabrikhallen. Tallinn, du weißt zu überraschen.
Bullerbü-Romantik in Kalamaja