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Weshalb mein Auslandssemester erst der Anfang war!

Als ich im August 2022 in São Paulo (SP) ankam, fühlte es sich auf eine Art an, wie nach Hause zu kommen an. In den letzten Jahren war ich immer wieder für längere Zeiten in Brasilien gewesen, hatte täglich mit meinem brasilianischen Freund geschrieben und telefoniert und die letzten Wochen vor der Abreise an fast nichts anderes gedacht. Allerdings war São Paulo nicht ganz „zu Hause“, denn die Mega-Metropole ist fast 2.000 Kilometer entfernt von meinen Freunden in Salvador und damit dem Ort, an den ich eigentlich mein Herz verloren hatte. „Etwas anderes“ war aber zugleich genau, was ich suchte, denn ich war auf einer Mission, auf der Suche nach „Brasilianisch für Fortgeschrittene“. Ob diese Mission erfolgreich war und was ich dabei gelernt habe, verrate ich euch in diesem Beitrag.

Es ist so weit: Nach einem halben Jahr Auslandssemester muss ich den klischeehaften Satz sagen: Die vergangenen sechs Monate in Brasilien sind wie im Flug vergangen und ich kann es gar nicht glauben, dass ich so lange in São Paulo gelebt habe. Nur wenn ich mir die andere Seite ein wenig anschaue, schaffe ich es, es ein wenig mehr zu glauben. Denn sechs Monate lang habe ich meine Familie und viele meiner Freund*innen nicht mehr gesehen, keine Fahrradtour durch meine Stadt gemacht, oder auch einfach nur eine Brezel gegessen. Wenn ich mich dem Heimweh ein wenig hingebe, ist es doch eine echt lange Zeit gewesen, in der ich viel gemacht und erlebt habe und auch so einiges gelernt.

Sonnenuntergang in Salvador
Die letzten Male in Brasilien war ich vor allem am Meer und in Bahia. Dieses Mal ging es in Brasiliens größte Stadt!

Brasilien für Fortgeschrittene

In den letzten vier Jahren war ich mehrmals für längere Zeit in Brasilien gewesen, habe Portugiesisch gelernt und verschiedene Teile des Landes kennengelernt. Während dieser Zeit wuchs in mir der Wunsch, endlich nicht mehr nur eine Gästin zu sein, sondern richtig in Brasilien zu leben, zu studieren, mein Portugiesisch weiter zu verbessern und weitere Städte kennenzulernen. Ich wollte herausfinden, was „Brasilianisch“ noch so alles sein kann und wie die unterschiedlichen Seiten dieses südamerikanischen Giganten für mich zusammenpassen. Kurzum, ich wollte eine Portion „Brasilianisch für Fortgeschrittene“.

Habe ich das nun erreicht? Ich denke, ich habe auf jeden Fall eine Menge über Brasilien gelernt und dabei auch über mich selbst. Es folgt ein Beispiel 🙂

Probiers mal mit Jeitinho

Häufig übersetzt als der „brasilianische Weg“ ist damit eine Art gemeint, Dinge zu erreichen, indem kreative Lösungen gefunden werden, manchmal muss dafür lediglich ein wenig umgedacht werden, andere Male auch ein Auge zugedrückt. „Dar um jeito„, also einen Weg finden egal wie, ist etwas, dass ich erst lernen musste. Denn in Brasilien bedeutet ein „Nein“ nicht immer eine Absage, sondern, dass ihr es morgen noch einmal probieren solltet und so bedeutet dieser „brasilianische Weg“ häufig geduldig und optimistisch zu bleiben. „Jeitinho brasileiro“ kommentieren meine Freund*innen in São Paulo häufig mit einem Augenzwinkern, wenn wir etwas gegen alle Wahrscheinlichkeiten irgendwie doch erreichen.

Und auch außer des „jeitinho“ habe ich die brasilianische Art weiter schätzen gelernt. Für mich bedeutet sie, optimistisch zu bleiben und immer freundlich und geduldig eine Lösung zu suchen. Aus Deutschland kenne ich es, dass wir uns ziemlich schnell beklagen, wenn etwas nicht funktioniert. Ich erinnere mich an einen besonders beispielhaften Moment als ich das erste Mal in Brasilien war und meine Freund`*innen mich gefragt haben, wie mein Tag war. Ich habe dann neben anderen Sachen vermeintlich ganz neutral erzählt, dass ich morgens meinen Bus verpasst hatte. Daraufhin reagierten meine Freund*innen mit extrem viel Mitleid und fragten mich, ob nun alles gut sei. Davon war ich zunächst ziemlich überrascht, schließlich hatte ich lediglich meinen Bus verpasst, später verstand ich aber, dass sie dachten, es hätte mich ziemlich belastet, sonst hätte ich diesen Vorfall schließlich nicht erzählt. Dieses und andere Erlebnisse haben mir gezeigt, wie schnell ich mich in Deutschland auf negative Kleinigkeiten konzentriert hatte, auch wenn sie gar nicht wichtig waren. In Brasilien habe ich dagegen das Gefühl, dass viele Menschen flexibler sind und sich daher auch weniger ärgern. Auch das ist etwas, dass ich in meiner Zeit in São Paulo weiter gelernt habe, denn häufig funktionierten Dinge nicht beim ersten Anlauf oder dauerten ihre Zeit und so musste ich sie mit ein wenig „jeitinho“ angehen.

Portugiesisch für Fortgeschrittene

In Brasilien sagen Leute umgangssprachlich häufig „falar brasileiro„, also Brasilianisch sprechen, auch wenn es natürlich eigentlich Portugiesisch ist. Aber auch wenn es die gleiche Sprache ist, klingt sie an verschiedenen Orten der Welt sehr unterschiedlich und besonders in Brasilien gibt es viele „girias“ (vergleichbar mit Jargon, Slang), die für mich ebenfalls zu dieser brasilianischen Art gehören. In den letzten Monaten habe ich gemerkt, wie die Sprache immer mehr zu einem natürlichen Teil meines Alltags wurde, nicht nur durch meine Uni-Texte, sondern auch über den alltäglichen Sprachgebrauch. Und weil ich glaube, dass es für euch interessanter ist, etwas über Slang zu lesen, als darüber, wie ich mein akademisches Portugiesisch ausgebaut habe ;), folgen hier ein paar alltägliche Redewendungen, die für mich so richtig brasilianisch sind:

  • Desculpe por qualquer coisa! – Das ist ein Satz, den ich häufig gehört habe, wenn ich mich von Leuten verabschiedet habe, vor allem nachdem ich bei ihnen zu Besuch war. Übersetzt bedeutet es „Entschuldige, falls irgendetwas war“. Damit wollen sich die Leute entschuldigen, sollte etwas unangenehm gewesen sein, was sie vielleicht nicht bedacht haben und entschuldigen sich zugleich dafür, es nicht bedacht zu haben. Für mich ist diese Redensart ein Symbol für die unglaubliche Gastfreundschaft in Brasilien und ich finde es eine schöne und liebe Weise anderen ein Gefühl zu geben, willkommen zu sein.
  • rolê – Ein rolê ist ein Erlebnis, Rundgang oder ein Treffen mit Freund*innen, dabei schließt das Wort fast jede Art von Aktivitäten ein, es kann ein Nachmittag am Strand, ein kurzer Spaziergang, oder aber eine mehrtägige Reise sein. In manchen Fällen ist ein rolê auch etwas das allein gemacht wird. Für mich ist das Wort so brasilianisch, weil es die typische Spontanität enthält, es wird nicht genau geplant, sondern ich habe mich oft mit Freund*innen zu einem rolê verabredet, also dazu, irgendetwas zu machen.
  • Meu bem, minha querida & meu amor – mein Schatz, meine Liebe, mein Liebes, das sind vielleicht einige möglichen Übersetzungen dieser Worte, mir fällt es aber schwer, deutsche Entsprechungen zu finden. Im brasilianischen Portugiesisch gibt es eine Menge solcher Kosenamen, die werden allerdings keinesfalls nur in romantischen Beziehungen oder gegenüber der Familie benutzt. Stattdessen wurde ich häufig im Supermarkt oder auch im Bus so angesprochen. Anfangs ist das ein wenig merkwürdig, doch nachdem die erste Überraschung überwunden ist, fand ich es schön und empfand es als ein Beispiel für die freundliche Umgangsart in Brasilien.

Highlights und Herausforderungen

Wie ihr wahrscheinlich schon gemerkt habt, hat es mir sehr gut in Brasilien gefallen. Dazu hat besonders diese brasilianische Art, wie ich zu nun beschrieben habe, beigetragen. Allerdings war das natürlich nicht das Einzige. Während der Zeit in São Paulo gab es viele größere Highlights wie den Wochenendentripp nach São Bento do Sapucaí, meine Bildungsreise nach Arraial do Cabo und das Wiedersehen mit meinem Freund, aber auch kleinere Highlights wie den Fund veganer Cafés, der Besuch im Museum der indigenen Kulturen und lange Spaziergänge über die Avenida Paulista.

EIn Mächen steht am Meer an einem felsigen Strand
Meine Reise nach São Sebastião war sehr besonders für mich.

Es gab aber auch einige Herausforderungen, vor allem im Bezug auf die Bürokratie und die Regulierung meines Aufenthaltes im migrantischen System. Bisher hatte ich noch nie die Erfahrung gemacht, Immigrantin zu sein und auch wenn ich als weiße Europäerin sehr viele Vorteile habe und von allen Seiten stets Hilfe bekam, war das eine sehr anstrengende Erfahrung. Denn es verging fast keine Woche, in der ich nicht damit beschäftigt war, Dokumente zusammenzusammeln für meine Registrierung bei der Bundespolizei oder auf Hindernisse traf, weil mir etwas fehlte. Ein Beispiel: Um deinen Aufenthalt bei der Bundespolizei fristgerecht zu registrieren, brauchte ich eine Handynummer, um diese zu bekommen, brauchte ich aber eine brasilianische Steuernummer, um diese in Brasilien zu bekommen, musste ich erst einen Antrag ausfüllen, zur Post fahren und Servicegebühren bezahlen, diese Gebühren können aber nur bar, oder über ein brasilianisches Konto bezahlt werden und sind daher für Ausländer*innen teilweise schwierig.

Ausschnitt aus einer brasilianischen  Bank
Leider habe ich viel Zeit beispielsweise bei der Bank mit warten verbracht.

Wegen solcher und ähnlicher Momente, sehnte ich mich manchmal sehr nach Deutschland zurück wo es für mich als Staatsbürgerin einfacher ist und ich bereits ein besseres Verständnis der Bürokratie habe. Auch wenn diese Erfahrungen teilweise sehr frustrierend waren, glaube ich, dass ich dadurch einiges gelernt habe. So konnte ich mich beispielsweise direkt darin üben, ein wenig „brasilianischer“ zu reagieren, also mit Gelassenheit und jeitinho.

Ich glaube, ich habe aber auch etwas für mich gelernt, denn ich habe einen kleinen Eindruck davon bekommen, wie schwierig es sein kann, als Ausländerin in ein fremdes System zu migrieren, welches einem scheinbar Steine in den Weg legt. Diese Erfahrung hat mich dazu gebracht, weiter darüber zu reflektieren, wie frustrierend und schwierig es für Ausländer*innen in Deutschland sein kann.

Brasilianisch für Fortgeschrittene? Eine Lebensaufgabe!

Mein Ziel, Brasilien besser kennenzulernen und mehr als nur Gästin zu sein, habe ich, denke ich, erreicht und ich bin sehr zufrieden mit meinem Auslandssemester und all den verschiedenen Erfahrungen, die ich bisher gemacht habe. Dazu gehören meiner Meinung nach auch die Herausforderungen. Die Zeit in São Paulo hat mir sehr geholfen, mir noch sicherer in meinen Studieninteressen zu werden, außerdem habe ich viele neue Menschen und Orte kennenlernen können.

Eine umgedrehte Südamerikakarte mit Markierungen für die unterschiedlichen indigenen Sprachen.
Mein Auslandssemester hat mir geholfen, die Dinge aus einer anderen Perspektive zu sehen.

Dennoch ist mir auch klar, wie viel mehr es noch zu entdecken gibt. Brasilien kennenzulernen ist eine Lebensaufgabe. Umso mehr freue ich mich deswegen, dass ich die Chance bekommen habe, noch ein paar weitere Monate hier für ein Praktikum zu verbringen, dieses Mal voraussichtlich im sonnigen Salvador da Bahia. Meine Mission Brasilianisch für Fortgeschrittene hat in den letzten Monaten einen großen Schritt nach vorn gemacht, vorbei ist sie aber noch lange nicht!

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