17. Januar 2021
In meinem letzten Beitrag hat mein Onkel Manuel Álvarez von seiner Jugend als Gastarbeiterkind in Deutschland erzählt. An seine ersten Lebensjahre in Spanien kann er sich kaum erinnern; trotzdem sollte er eines Tages dauerhaft dorthin zurückkehren. Was ihn dazu gebracht hat und wieso er ungern „Auswanderer“ genannt wird, darum geht es im zweiten Teil. Der folgende Beitrag ist auf Basis eines Interviews entstanden und beschreibt die Erlebnisse aus seiner Perspektive.
Yolanda und ich haben also geheiratet, sagt Manuel. Ihre Geschwister waren den Eltern gefolgt und haben sich in Spanien ein Leben aufgebaut. Für uns war das zunächst kein Thema. Wir waren am beruflichen Höhepunkt, hatten gerade ein Haus gekauft und unser zweites Kind kam zur Welt. Joel.
Wir beschlossen ihn in Spanien taufen zu lassen … ja … und da fing es so richtig an.
Ja! Nein! Doch! Nein! Vielleicht!
Spanien war immer ein tolles Urlaubsziel. Und da war mein kleiner Sohn – gerade ein halbes Jahr alt – und wurde hier getauft. Und Yolanda und ich, wir waren doch auch irgendwie spanisch – hatten die spanische Staatsbürgerschaft und unsere Familie lebte dort.
Wir waren neugierig – man könnte auch sagen: „naiv“ – und inserierten einfach mal aus Jux das Haus in der Lokalzeitung. Nach wenigen Tagen meldeten sich die ersten Interessenten. Und es wurden mehr. Und mehr. Und mehr.
Yolanda und ich setzten uns ernsthaft mit dem Thema auseinander.
„Wir haben zwei Kinder …“
„… und gute Jobs!“
„Unsere Eltern haben Spanien wegen der miesen Arbeitslage verlassen.“
„Ich kann dir nicht einmal sagen, was ‚Arbeitslage‘ auf Spanisch bedeutet! Weißt du’s?“
„Nein, keine Ahnung!“
Aufbruch
Am Ende war es doch irgendwie eine Kurzschlussentscheidung. Wir verkauften das Haus. Ein Laster brachte die Möbel, wir fuhren mit dem eigenen Wagen. Auf der Rückbank saßen Joel – ein Jahr alt – und unsere Tochter Lorena – vier Jahre alt. Wir hatten unsere Jobs gekündigt und fuhren auf die Autobahn. Dem Sonnenuntergang und der Arbeitslosigkeit entgegen. Hätten wir uns das gut überlegt, wir hätten es bestimmt nicht getan. Yolanda und ich haben geheult wie die Schlosshunde, während wir gen Süden fuhren. Die Tochter verstand nicht so wirklich, was vor sich ging. Das Baby sowieso nicht.
Ankommen
Die ersten drei Jahre haben die Koffer immer bereitgestanden. Wir fanden eine Mietwohnung in der Stadt und ich einen Job als völlig überqualifizierter Hilfsarbeiter auf dem Bau.
Yolanda und mir wurde schnell bewusst, wie schlecht wir Spanisch sprachen. Umgangssprache, Fachbegriffe im Job, Nachrichtensendungen … – oh, mein Gott, diese Nachrichtensendungen, in denen die Moderatoren rückwärts Zungenbrecher aufsagen! Wir verstanden nur die Hälfte. Es war demütigend.
Ich schätze Lorena und Joel bekamen nicht mit, wie schwer für uns die Anfangszeit war. Sie lebten sich schnell ein, hatten Freunde, lernten die Sprache bald besser als wir. Ich war erleichtert. Wären wir in Deutschland geblieben, wäre ihre Kindheit zumindest finanziell abgesichert gewesen. Hier sind wir ein Risiko eingegangen.
Aber diese Reise machten wir auch für sie. Yolanda und ich waren in Deutschland „die Spanier“, in Spanien waren wir jetzt „die Deutschen“. Bei unseren Kindern würde es anders sein. Sie würden nicht nur einen spanischen Pass und einen spanischen Namen haben, auch ein ganz und gar spanisches Leben. Sie würden nicht zwischen zwei Stühlen sitzen müssen.
Hochs …
Ich stieg schnell die Karriereleiter auf und auch Yolanda fand Arbeit. Wir kauften ein Haus in Los Barrios. Den Ort nennt man auch „das Schlafzimmer des Landkreises“. Die Nachbarn sind Lehrer und Angestellte des Industriegebiets oder der Haftanstalt. Sie kommen hierher, um ihre Ruhe zu kriegen. Eine tolle Gegend, um Kinder großzuziehen.
… und Tiefs.
Und dann – 2008 – platze die Immobilienblase. Viele wurden arbeitslos. Yolanda und ich gingen in Kurzarbeit.
Es klingt abgedroschen, aber aufgeben war für uns niemals eine Option. Mit Ende dreißig drückte ich wieder die Schulbank, machte eine Fortbildung zum Schweißer und eine zum Maschinenschlosser. Ich saß bis in die Morgenstunden am Küchentisch. Links ein Stapel mit Lehrbüchern, rechts ein Lexikon: Deutsch-Spanisch.
Es war nicht einfach, aber wir erkämpften uns ein gutes spanisches Leben. Ich war mittlerweile ein richtiger Allrounder in meinem Berufsfeld und sprach ja auch fließend Deutsch. So fand ich einen Job bei einem deutschen Bauunternehmer in Málaga, stieg schnell zum Vorarbeiter auf.
Heute
Es hat uns einiges an Nerven abverlangt, aber heute ist Spanien unsere Heimat. Die Kinder gehen hier zur Uni und sprechen perfektes Spanisch. Lorena büffelt derzeit für die Deutsch-B2-Prüfung. Sie wird dieses Jahr ihr Zahnmedizinstudium abschließen und möchte dann einige Praxiserfahrungen in Deutschland sammeln. Joel studiert Volkswirtschaft. Er möchte gerne ein Auslandssemester in England machen.
Ich bin stolz auf sie und motiviere sie dazu, auch mal ihr Glück im Ausland zu suchen – ob sie es finden, das liegt dann ganz bei ihnen. Sie sollen nur niemals Angst haben – die hatten Yolanda und ich auch nicht, als wir ohne Job nach Spanien gekommen sind.
Zwischen zwei Stühlen
Wir sind damals nicht ausgewandert, auch wenn es sich vielleicht so angefühlt hat. Rückblickend kommt es mir so vor, als wären wir von einem Heimatland ins andere gezogen. Heute fühle ich mich spanisch … aber wenn es regnet und ich stinkig bin, fühle ich mich deutsch. Wenn mich mein Nachbar zum Eisteetrinken einlädt und zwanzig Minuten nach der verbliebenen Zeit selbst noch gar nicht zu Hause ist, fühle ich mich deutsch. Neulich habe ich einen Mitarbeiter zusammengepfiffen, der seinen Helm zu Hause liegengelassen hat. „Manuel“, hat er da gesagt, „du bist gerade richtig deutsch.“
Ich sitze also immer noch zwischen zwei Stühlen. Aber ich finde es toll. Deutschland hat meinen Charakter geformt, mit dem ich ziemlich zufrieden bin; Spanien ist das Land, in dem ich leben möchte.
Yolanda und ich sind hier zur Ruhe gekommen. Und wir haben zwei Kinder großgezogen, die Spanien zu 100 Prozent als ihre Heimat ansehen. Sie sitzen nicht zwischen zwei Stühlen.
Markus Kampes
17. Januar 2021
Eine spannende und wendungsreiche Geschichte. Außerdem ein toller Einblick in die Gefühlslage von Menschen, die irgendwie immer 2 Heimatländer haben. Ob nun bewusst oder unbewusst.
Ansonsten find ich den Familienbericht sehr einfühlsam geschrieben mit einer Prise Humor aus dem Alltagsgeschehen. Ich sag nur…Kartoffel
Adrián
20. Januar 2021
Danke dir, Markus!
Und ich gebe dein Feedback an Manuel weiter. Er sagt bestimmt auch Danke!
Lieben Gruß,
Adrian